Heute stimmen die Niederlande über ein neues Parlament ab. Im Wahlkampf vor vier Jahren prägten eine Immobilienkrise und die Sparpolitik das Land. Fragen zum heutigen Zustand von Wirtschaft und Befindlichkeit an SRF-Korrespondentin Elsbeth Gugger in Amsterdam.
SRF News: Viele Wirtschaftsexperten stellen den Niederlanden ein gutes Zeugnis aus, zu Recht?
Elsbeth Gugger: Die Niederlande haben die Rezession definitiv hinter sich gelassen. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, insbesondere bei den Jungen und jenen, die 55-jährig oder älter sind. Die Wirtschaft wächst und der Immobilienmarkt boomt. Die Niederlande sind vom EU-Schlusslicht wieder fast zum EU-Musterschüler geworden.
Die wirtschaftliche Lage ist also bedeutend besser als vor vier Jahren?
Es ist kein Vergleich. Die sehr strengen Sparmassnahmen, die vielen wehgetan haben, zeigen Wirkung. Ungeachtet dessen kritisieren viele Wirtschaftsexperten, dass der Arbeitmarkt zu stark flexibilisiert worden sei. Der Präsident des Gewerkschafsbundes rief diese Woche die Politik auf, mehr feste Stellen zu schaffen und die Abwärtsspirale zu brechen.
Viele Betriebe haben Angestellte entlassen und mieten sie zu wesentlich schlechteren Konditionen wieder an.
Zum Vergleich: 2004 hatte 73 Prozent der Arbeitsbevölkerung einen unbefristeten Arbeitsvertrag, im vergangenen Jahr waren es noch 61 Prozent. Die Tendenz ist immer noch stark sinkend. Viele Betriebe haben ihre Angestellten entlassen und mieten sie jetzt je nach Bedarf zu wesentlich schlechteren Konditionen wieder an.
Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,3 Prozent, das Wirtschaftswachstum bei überdurchschnittlichen 2,1 Prozent. Warum hilft das den Regierungsparteien im Wahlkampf kaum?
Es ist ein grosses Rätsel, warum sie aus einem so guten Leistungsausweis nicht oder nur bedingt Kapital schlagen können. Der rechtsliberale Premier Mark Rutte wie auch der sozialdemokratische Vizepremier Lodewijk Asscher liessen sich zu diesem Thema erst in den letzten Tagen verlauten. Vielleicht war das im Fall von Asscher zu spät und mit ein Grund, dass die Sozialdemokraten in den Umfragen so weit zurückliegen.
Der Populist Geert Wilders sammelt die Stimmen der Unzufriedenen. Ist der Aufschwung bei den Normalbürgern nicht richtig angekommen?
Der Aufschwung ist angekommen. Die Menschen wagen es wieder, Geld auszugeben und zu investieren. Es gibt aber diese Unsicherheit, die zum einen mit den flexiblen Arbeitsverträgen und zum anderen mit dem Thema Immigration zusammenhängt. Das darf nicht unterschätzt werden. Für einen Teil der Bevölkerung kommen zu viele Fremde ins Land, was ihnen Angst macht. Diese Menschen bedient Wilders mit seinen Anti-Immigrations-Voten. Zudem gibt es bei vielen Menschen einen Widerstand gegen die Erhöhung des Rentenalters, das unter Rutte von 65 auf 67 Jahre angehoben wurde. Auch in diese Bresche ist Wilders gesprungen.
Wirtschaftliche Unsicherheit ist also auch in den Niederlanden der Nährboden für Populismus?
Ohne Zweifel. Es gibt eine Studie aus den 1990er Jahren. Sie besagt, dass es 20 Prozent Unzufriedene gibt, die zum Rechtspopulismus neigen, und zwar unabhängig davon, ob es ihnen gut oder schlecht geht. Es gibt aber noch etwas, das nichts mit dem Nährboden für Populismus zu tun hat: die sehr ausgeprägte Jammerkultur in den Niederlanden.
Das niederländische Volk klagt sehr gerne, sehr oft und sehr laut und am liebsten im Kollektiv – mit und ohne Grund.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.