In einem neuen russischen Schulbuch wird der Krieg in der Ukraine glorifiziert – und der Westen dämonisiert. Das Lehrmittel soll zum Schulstart Anfang September an alle Schulen im Land geliefert werden. Das Buch richtet sich an Schülerinnen und Schüler der elften Klasse, die um die 17 Jahre alt sind. Ulrich Schmid, Professor für russische Kultur und Gesellschaft an der Universität St. Gallen, über die Rolle der Schulbildung im System Putin.
SRF News: Was soll ein solches Geschichtsbuch bei den Jugendlichen in Russland auslösen?
Ulrich Schmid: Das Buch richtet sich an die ältere Schülergeneration. Der Kreml weiss genau, dass sie es sind, die womöglich in Zukunft auf die Strasse gehen könnten. Dieses Buch soll sicherstellen, dass die jungen Menschen mit der richtigen Einstellung zur neusten Geschichte und zum russischen Staat aus der Schule entlassen werden.
Warum eignet sich dafür gerade ein Geschichtsbuch?
Geschichte ist im System Putin eine wichtige Machtressource. Dieses autoritäre System funktioniert ja immer noch als eine Art Fassadendemokratie. Gleichzeitig ist sowohl für die Herrschenden als auch für die Beherrschten klar, dass die gegenwärtige Regierung über keine demokratische Legitimierung verfügt.
Putin versteht nicht, wie die junge Generation tickt.
Deswegen müssen andere Machtressourcen angezapft werden – und Geschichte ist eine der wichtigsten Legitimationsquellen. Nicht nur für die Institution der russischen Regierung, sondern auch für das Vorgehen in der Ukraine.
Wladimir Putin setzt auf ein klassisches Geschichtsbuch. Er selbst gibt an, kein Smartphone zu besitzen und ist auch in den sozialen Medien abwesend. Wie steht es denn um Putins Draht zur Jugend?
Putin versteht nicht, wie die junge Generation tickt. Er hat immer noch seine eigene Sozialisation vor Augen. Deswegen konnten wir in den letzten fünf bis zehn Jahren auch immer wieder Versuche beobachten, die aktuelle russische Jugend nach sowjetischem Vorbild zu organisieren: mit Jugendorganisationen und Lagern im Wald, in denen politische Bildung vermittelt wird. Gleichzeitig ist klar, dass die heutige, vor allem urbane russische Jugend genauso tickt wie ihre Gleichaltrigen in Europa.
Das Buch stellt eine vorgefertigte Meinung zur ‹Spezialoperation› in der Ukraine bereit, die aus der Sicht des Staates von den jungen Menschen übernommen werden soll.
Das Buch soll 17-Jährige ansprechen. Die Wehrpflicht gilt für männliche Russen ab 18. Will Russland mit diesem Geschichtsbuch letztlich auch überzeugte Soldaten gewinnen?
Das ist durchaus möglich. In Russland gibt es im Moment ein grosses Problem mit der Einberufung von Freiwilligen für den Krieg in der Ukraine. Der Jugend hat man in den letzten 20 Jahren eingetrichtert, dass sie sich nicht um Politik kümmern muss. Denn den Staat besorgt der Kreml selbst. Das ist nun ein grosses Dilemma für das System Putin. Denn auf einmal sollen diese jungen Leute für den Staat einstehen. Und das mit ihrem Leben.
Die russische Regierung will mit dem Buch Jugendliche ansprechen, die mit Putin aufgewachsen sind und nie eine andere Führungsfigur erlebt haben. Was sagt das Lehrmittel über das Verhältnis zwischen Putin und der russischen Jugend aus?
Dieses Geschichtsbuch zeigt, dass das Verhältnis zwischen Putin und der Jugend fragil ist. Gleichzeitig ist es Ausdruck davon, dass die Schulen genau dort ansetzen wollen, wo die Unsicherheit der Jugendlichen gross ist. Umfragen haben gezeigt, dass die junge Generation zu 30 oder 40 Prozent keine Meinung zur sogenannten «Spezialoperation» in der Ukraine hat. Dieses Geschichtsbuch stellt nun eine vorgefertigte Meinung bereit, die aus der Sicht des Staates von den jungen Menschen übernommen werden soll.
Das Gespräch führte Oliver Kerrison.