Der russische Soziologe Grigori Judin sagt, der Krieg in der Ukraine könne auch auf Nato-Staaten übergreifen. Es gehe Russland um den Einflussbereich in ganz Osteuropa.
SRF News: In der russischen Duma war kürzlich die Rede vom «grossen Krieg». Wie ist das zu werten?
Grigori Judin: Es war Andrej Kartapolow, Chef des Verteidigungskomitees der Duma, der so eine Reihe neuer Gesetzesänderungen kommentierte. Diese betrafen unter anderem die Ausweitung der Wehrpflicht. Dank dieser Gesetze kann die russische Armee zusätzlich Hunderttausende Männer aufbieten. Er meinte, die neuen Gesetze seien für den grossen Krieg geschrieben; die grosse Mobilmachung. Und es rieche bereits nach dem grossen Krieg.
Und gegen wen?
Putins Ideologen meinen damit einen Krieg gegen die Nato. Und Nato heisst für sie praktisch die USA. Dabei geht es um die Zukunft Europas. Ich erinnere daran, dass Präsident Putin 2021 gefordert hatte, dass die Nato all ihre Truppen aus Osteuropa abziehen solle. Die Gesetze, die das Parlament in den letzten Monaten verabschiedet hat und noch verabschieden wird, haben ein Ziel: Das Land auf Kriegskurs bringen. Auch die Wirtschaft und den Staatsapparat.
Wie will Russland gegen die Nato kämpfen, wenn es schon in der Ukraine so grosse Probleme hat?
Natürlich wird die russische Armee nie so stark wie die Nato. Aber es wird eine hochgerüstete Armee sein, die es über eine längere Zeit schaffen kann, den Gegner zu beschäftigen und zu ermüden. Und genau das ist das Kalkül. Putin ist bereit, einen viel höheren Preis zu zahlen, als Europa und die USA es sind. Ihm ist es egal, wie viele Menschen er opfern und wie viele Ressourcen er verbrauchen muss.
Er meint: Früher oder später wird der Westen, trotz seiner Überlegenheit, den hohen Preis für den Sieg nicht mehr zahlen wollen. Ich sage nicht, dass Putins Rechnung aufgeht, überhaupt nicht. Aber es ist ein rationaler Plan, den man beachten muss. Das ist kein Plan von Wahnsinnigen.
Ist denn das russische Volk für so etwas bereit?
Das Volk wird nicht danach gefragt. Die Menschen werden mobilisiert und zur Schlachtbank geschickt. Ich kann aber eines klar sagen: Es gibt keine aggressive Stimmung in Russland; es gibt keine grossen Massen, die diesen grossen Krieg möchten, sie haben ganz andere Sorgen. Sie halten sich davon fern.
Putin ist bereit, einen viel höheren Preis zu zahlen, als Europa und die USA es sind.
Was sagen sie zu möglichen Verhandlungen?
Putin hat bisher kein einziges Mal zu verstehen gegeben, dass er wirklich Verhandlungen möchte. Sein Ziel bleibt, dass die Ukraine als Staat nicht mehr existiert. Putin wäre derzeit wohl einzig zu Verhandlungen direkt mit den USA bereit – und zwar darüber, wie Europa neu verteilt wird.
Kein Ausweg aus der Situation?
Es gibt eine Möglichkeit, wie der Konflikt in absehbarer Zeit beendet werden könnte: Wenn der Druck auf die regierende Schicht Russlands erhöht wird, aber ihr gleichzeitig klare und annehmbare Varianten angeboten werden, um aus dem Konflikt herauszukommen. Selbstverständlich müssen die Leute die Verantwortung übernehmen für das, was geschehen ist. Aber das darf nicht heissen, dass man dem Land sämtliche Perspektiven nimmt. Aber solange Putin im Kreml das Sagen hat, wird der Krieg weitergehen und eskalieren.
Das Gespräch führte Christof Franzen.