«Maul halten, was heult ihr denn so rum!», brüllt ein uniformierter Mann von der Bühne in den Saal. «Die Spielstunde ist vorbei, ihr seid Soldaten!», ruft ein zweiter. Im Saal herrscht Aufruhr. Videos in den sozialen Medien legen nahe: Die Mobilmachung in Russland verläuft mancherorts chaotisch.
Renitente oder betrunkene Männer werden in Busse gezerrt. Teilweise kommt es zum Handgemenge zwischen den angehenden Rekruten und den Sicherheitskräften, die sie zum Militärstützpunkt begleiten.
Derweil häufen sich die Berichte, wonach auch Männer aufgeboten werden, die eigentlich gar nicht wehrpflichtig wären: Teenager, Rentner, chronisch Kranke.
Putins Schutzbehauptung
Wladimir Putin hatte angekündigt, die Teilmobilmachung werde sich auf 300'000 erfahrene Reservisten beschränken. Es wird immer deutlicher, dass dies nicht stimmt. Es war wohl ein Schutzbehauptung, um die meisten Russinnen und Russen weiter glauben zu lassen, der Krieg gehe sie nichts an.
Wir werden nicht kämpfen, wir gehen jetzt alle nach Hause!
Doch die Bereitschaft der Bevölkerung, der patriotischen Propaganda zu folgen, stösst immer mehr an Grenzen. Rekrutierungsbüros werden in Brand gesteckt. An einem Busbahnhof in der Stadt Rjasan zündete sich ein einberufener Mann selbst an.
Der Unmut erfasst die Randregionen
Und am Montag schoss ein Mann in einem Rekrutierungszentrum Sibirien den Kommandanten nieder, wie lokale Medien berichten. Zuvor soll der Mann geschrien haben: «Wir werden nicht kämpfen, wir gehen jetzt alle nach Hause!». Die Proteste gehen weiter, wie ein Video aus dem ostsibirischen Jakutsk zeigt:
Diesmal beschränken sich die Demonstrationen nicht auf junge, gebildete Oppositionelle in den grossen Städten. Auch in Randregionen tun Menschen öffentlich ihren Unmut über den Krieg kund.
In Sibirien und im Kaukasus protestierten hunderte Frauen dagegen, dass ihre Männer und Söhne rekrutiert werden. In der Stadt Naltschik, unweit der Grenze zu Georgien, konfrontierten aufgebrachte Mütter örtliche Beamte. «Was wäre, wenn dein Sohn in die Ukraine müsste?», fragte eine Frau.
Russland hat die Ukraine angegriffen, nicht umgekehrt!
In der muslimisch geprägten Region Dagestan blockierten Menschen die Strassen, um den mit Rekruten gefüllten Bussen den Weg zu versperren. Die Polizei feuerte Warnschüsse ab, Männer lieferten sich ein Gerangel mit den Sicherheitskräften – und auch hier demonstrierten viele Männer.
Dabei kam es laut russischen Medien zu Dutzenden Festnahmen. «Russland hat die Ukraine angegriffen, nicht umgekehrt!», redete eine Frau auf einen Polizisten ein, der sich ihr entgegenstellte. Dann stimmte die Menge einen Sprechgesang an, der bislang fast nur in Moskau und St. Petersburg zu hören gewesen war: «Nein zum Krieg!»