Es gibt viele Gerüchte über die schlechte Moral und Ausrüstung unter den russischen Truppen im Krieg gegen die Ukraine. Auch Wehrpflichtsoldaten sollen an der Front eingesetzt worden sein – obwohl Putin dies ausgeschlossen hatte und es gemäss russischem Gesetz verboten ist. Mehr über die russische Armee weiss der Russland-Kenner Jens Siegert.
SRF News: Welche Rolle spielen russische Wehrpflichtsoldaten derzeit im Ukrainekrieg?
Jens Siegert: Gesichert ist, dass tatsächlich Wehrpflichtige in der Ukraine eingesetzt wurden. Putin ordnete aber an, diese aus der Ukraine wegzubringen. Ob sich die russische Armee daran hält und ob Putin das überhaupt ernst meinte, lässt sich schwer sagen – laut ukrainischer Seite sind immer noch wehrpflichtige Russen im Krieg im Einsatz.
Welchen Stellenwert haben die Wehrpflichtigen in der russischen Armee, die ja auch aus Berufssoldaten besteht?
Laut offiziellen russischen Angaben sind ein Viertel aller Soldaten Wehrpflichtige. Allerdings gehen westliche Beobachter davon aus, dass die russische Armee insgesamt weniger Soldaten umfasst, als der Kreml offiziell angibt – der Anteil der Wehrpflichtigen am Gesamtbestand könnte also höher sein.
Wehrpflichtige werden mit allerlei Mitteln unter Druck gesetzt, um sie als Zeit- oder Berufssoldaten zu gewinnen.
Bei den Wehrpflichtigen handelt es sich nicht eigentlich um Kampftruppen, allerdings bilden sie für Russland das grösste Rekrutierungspotenzial für die Berufsarmee: Sind die jungen Männer erst mal im Militär, wird mit allerlei Mitteln und teils grossem Druck versucht, sie als Zeit- oder Berufssoldaten zu gewinnen.
Seit Jahrzehnten wird der schikanöse und brutale Umgang innerhalb der russischen Armee kritisiert. Wie muss man sich dies vorstellen?
Dafür gibt es im Russischen einen eigenen Ausdruck: «Dedowtschina», eine sehr lange und traurige Tradition in der sowjetischen und russischen Armee. Es bedeutet, dass die jüngeren Soldaten und Rekruten von den älteren Jahrgängen quasi wie Sklaven behandelt werden.
Die russischen Soldaten, insbesondere die Wehrpflichtigen, werden schlecht behandelt.
Das hat sich etwas gebessert, seit vor etwa zehn Jahren die Länge des Wehrdienstes auf ein Jahr halbiert wurde. Früher gab es vier Jahrgänge von Wehrpflichtigen – da waren die ältesten Pflichtsoldaten viel älter als die jüngsten. Jetzt sind es noch zwei Jahrgänge. Allerdings ist es immer noch so, dass die russischen Soldaten, insbesondere die Wehrpflichtigen, im Allgemeinen schlecht behandelt werden.
Laut offiziellen Kreml-Angaben sind im Ukraine-Krieg bislang rund 1350 russische Soldaten umgekommen, das US-Pentagon schätzt die Zahl dagegen auf über 10'000. Steigt wegen der hohen Verluste womöglich der innenpolitische Druck auf Putin?
Diese Gefahr besteht durchaus und das ist sich der Kreml auch bewusst. In diesem Licht ist auch die äusserst zurückhaltende offizielle Informationspolitik der Russen über Verluste zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gross, dass bislang mehr Russen bei den Kämpfen umgekommen sind, als der Kreml einräumt.
Die Zurückhaltung ist auch ein Teil des Versuchs, die ganze Sache vor der Bevölkerung möglichst lange geheim zu halten, um grösseren Unmut gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.