Am Dienstag hat Russland angekündigt, die Angriffe im Norden der Ukraine um Kiew reduzieren zu wollen. Doch im Süden geht der Angriffskrieg pausenlos weiter. So wurde am Dienstag das Verwaltungszentrum mitten in der Stadt von Mykolaiw mit einer Rakete angegriffen, mindestens zwölf Menschen starben.
In der Stadt befindet sich der Journalist Moritz Gathmann. Er beschreibt das russische Vorgehen als «reinen Terror» gegen die Zivilbevölkerung.
SRF News: Können Sie das Ausmass der russischen Angriffe vom Dienstag beschreiben?
Moritz Gathmann: Um etwa 4 Uhr waren zwei Raketeneinschläge in der Stadt zu hören, und etwa um 08.30 Uhr traf ein russischer Marschflugkörper das örtliche Verwaltungsgebäude im Zentrum der Stadt.
Die Russen wollten offenbar den Gouverneur töten.
Offenbar wollten die Russen den Gouverneur des Verwaltungsbezirks Mykolaiw töten, denn um diese Zeit findet dort normalerweise die tägliche Besprechung statt. Diesmal war er allerdings nicht dort. Bei dem Angriff wurden mindestens zwölf Menschen getötet, mindestens 34 wurden verletzt. Doch angesichts des katastrophalen Ausmasses der Zerstörung ist mit weiteren Opfern zu rechnen.
Die Russen betonen stets, sie würden nur militärische Ziele angreifen. Ist dieses Verwaltungsgebäude denn ein militärisches Ziel?
Natürlich verschmelzen im Kriegsfall die zivile und militärische Verwaltung in einem Gebiet. Doch das Gebäude war weder eine Kaserne, noch befanden sich dort Waffen, Militärtechnik oder Soldaten. In dem neunstöckigen Haus arbeiteten ausschliesslich Verwaltungsangestellte. Deshalb muss man den russischen Angriff als Terror bezeichnen.
Zwei Streubomben mit Hunderten Bomblets trafen ein reines Wohngebiet.
Die beiden anderen Bomben aus der Nacht trafen ein reines Wohngebiet. Als ich am Tag dort eintraf, waren Sprengstoffexperten dabei, Hunderte Bomblets einer russischen Streubombe zu entschärfen. Beide Angriffe fanden bloss wenige Stunden vor den «Friedensverhandlungen» in Istanbul statt. Offenbar wollten die Russen den Ukrainern zeigen, dass sie jederzeit jeden Gouverneur ausschalten können, wenn sie wollen. Die Russen haben also nochmals ihre Muskeln spielen lassen.
Besteht die Befürchtung, dass sich die russischen Truppen mit ihren Angriffen jetzt verstärkt auf den Süden der Ukraine konzentrieren werden?
Die Stadt Mykolaiw befindet sich an einem strategisch sehr wichtigen Punkt: Wenn es den Russen gelingt, von der Krim und Cherson her kommend in Mykolaiw durchzubrechen, ist der Weg für sie frei nach Odessa.
Wenn es den Russen gelingt, in Mykolaiw durchzubrechen, ist der Weg frei nach Odessa.
Dort liegen vor der Stadt russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer, und die Russen könnten die wichtige ukrainische Küstenstadt vom Land und vom Meer her in die Zange nehmen. Allerdings ist es den ukrainischen Kräften in den letzten Wochen eher gelungen, die Russen wieder in Richtung Cherson zurückzudrängen.
Rechnet man in Mykolaiw damit, dass es in den kommenden Tagen wieder schlimmer wird?
Nach den gestrigen Angriffen sind die Menschen hier sehr verunsichert. Zwar vertrauen sie einerseits der Stärke ihrer Armee, gleichzeitig gibt das den Menschen keinen Schutz vor Angriffen der Russen aus der Luft. Und diese gehen bei der Auswahl ihrer Ziele sehr kompromisslos vor.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.