Zum Inhalt springen
Merkel, Böhmermann und Erdogan
Legende: Spaltpilz Jan Böhmermann? Der deutsche ZDF-Satiriker sorgt für Misstöne zwischen Ankara und Berlin. Keystone / reuters (Fotomontage)

International Böhmermanns Schmähgedicht: Sturm im Wasserglas oder Staatskrise?

In Deutschland kommt keine Talkshow mehr darum herum: Das Schmähgedicht von Satiriker Jan Böhmermann sorgt für eine politische Krise zwischen Ankara und Berlin. Dabei geht es wohl um die Frage, ob der deutsche Staat erpressbar ist und welche Beweggründe die Türkei hat.

Aus juristischer Sicht ist es klar: Paragraf 103 des deutschen Strafgesetzbuches stellt die Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten unter Strafe. Allerdings nur, wenn sich diese in amtlicher Funktion in Deutschland aufhalten.

Video
Erdogan gegen Böhmermann
Aus Tagesschau vom 12.04.2016.
abspielen. Laufzeit 35 Sekunden.

Dennoch liegt eine Verbalnote aus Ankara, welche eine Strafverfolgung verlangt, bereits auf dem Tisch von Kanzlerin Angela Merkel. Das Bundeskanzleramt, das Justizministerium und das Auswärtige Amt wollen abklären, ob die Mainzer Staatsanwaltschaft ermächtigt wird, Ermittlungen durchzuführen. Soweit die juristische Komponente.

Unklar ist, ob Recep Tayyip Erdogan ein Recht darauf hat, sich auf diesen Paragrafen zu berufen. Wenn aber einer Ermächtigung von Seiten der deutschen Regierung stattgegeben werden sollte, muss diese juristisch wasserdicht sein, erklärt SRF-Deutschland-Korrespondent Adrian Arnold.

Wackelt das EU-Flüchtlingsabkommen?

Hallervorden doppelt nach

Box aufklappen Box zuklappen

In die Debatte greift auch der Kabarettist Dieter Hallervorden (80) ein. Er veröffentlicht auf Facebook ein eigenes Lied mit dem Titel «Erdogan, zeig' mich an». Darin heisst es etwa: «Ich sing' einfach, was du bist. Ein Terrorist, der auf freien Geist scheisst.» Der Schauspieler kommentierte seinen Song mit den Worten: «Jetzt erst recht.»

Gleichzeitig betonte der Sprecher der Kanzlerin, Steffen Seibert, dass für Merkel der Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes über die Presse- und Meinungsfreiheit oberstes Gut sei. Das wertet Arnold als ein Zurückkrebsen Merkels von früheren Aussagen, wonach sie ihrem Amtskollegen Ahmet Davutoglu gesagt habe, das Schmähgedicht von Böhmermann sei ein «bewusst verletzender Text». Damals sei die Affäre nicht so hochgehängt worden und Merkel hätte hier vorschnell gehandelt. Merkel hoffte damals wohl, die Sache sei mit dem Telefonat an Davutoglu und ihrer verbalen Verurteilung des Gedichts für Erdogan erledigt.

Doch eigentlich geht es um etwas ganz anderes. Die Bundeskanzlerin bangt um das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. «Sie weiss, dass dieses Abkommen über ihre Zukunft entscheidet», erklärt Arnold. Nun habe sie erkannt, dass die Böhmermann-Affäre weitere Kreise ziehe. Dadurch gerät sie aussen- und innenpolitisch in die Zwickmühle.

Wenig Interesse in Ankara

Und wie sieht man das in Ankara? In der Türkei wird die ganze Affäre nicht so heiss gegessen, wie sie in Deutschland gekocht wurde. Hier dominieren andere, wichtigere Themen wie das Flüchtlingsabkommen selbst, der Aufbau der Kurdengebiete oder eine geplante Verfassungsänderung, erklärt SRF-Korrespondentin Ruth Bossart in der Türkei.

Zudem hingen die Medien in der Türkei am Gängelband der Regierung. Eine oppositionelle Presse gebe es kaum mehr, so Bossart. Die Böhmermann-Affäre werde darum praktisch nur auf Social-Media-Kanälen kritisch diskutiert und dort vor allem von städtischen Nutzern, die sowieso Erdogan gegenüber meist kritisch eingestellt sind.

Innenpolitisch kann sich Erdogan als starker Mann profilieren, da sind sich die beiden Korrespondenten einig. Er ist ein alt gedienter Politfuchs, der jede Gelegenheit nutzt, um zu punkten. Die Böhmermann-Affäre werde längerfristig kaum Auswirkungen haben auf das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara. «Im Moment wird für das heimische Publikum gebrüllt», erklärt Bossart. «Gebrüllt» werde auch für die türkische Diaspora in Deutschland. Dort gebe es viele Anhänger von Erdogan.

Merkels Glaubwürdigkeitsproblem

Die politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind laut Ruth Bossart nicht beschädigt. Dafür stehe zu viel auf dem Spiel. Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen seien zu wichtig, damit sie Erdogan aufs Spiel setzen würde. Zudem habe der türkische Präsident in Europa nicht mehr so viele Freunde und werde sich darum hüten, die Beziehung zu Merkel weiter zu belasten.

Merkel selber stehe vor einem Glaubwürdigkeitsproblem, ist Adrian Arnold überzeugt. Zum einen könne sie nicht immer Erdogan anprangern, er trete die Pressefreiheit in seinem Land mit Füssen und gleichzeitig sei sie dann nicht bereit, diese in ihrem Land zu verteidigen. Zum anderen schaffe sich die Kanzlerin ein innenpolitisches Problem, wenn sie Ankara nachgebe und dafür das O.K. für ein Verfahren gebe.

Das Flüchtlingsabkommen

Der Pakt zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die nach dem 20. März illegal von der Türkei nach Griechenland übergesetzt sind, zwangsweise zurückgebracht werden können. Am vergangenen Montag waren die ersten etwa 200 Flüchtlinge von den griechischen Inseln Lesbos und Chios in die Türkei zurückgeschickt worden. Für jeden aus Griechenland abgeschobenen Syrer soll ein Syrer aus der Türkei legal in der EU aufgenommen werden. Diese Regelung gilt zunächst für 72 000 syrische Flüchtlinge, die in der Türkei Zuflucht gesucht haben. Nach Deutschland sollen 15 000 von ihnen kommen. Zudem erhält die Türkei Visa-Erleichterungen für türkische Bürger und Finanzhilfen.

Jederzeit top informiert!
Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.
Schliessen

Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Mehr

Push-Benachrichtigungen sind kurze Hinweise auf Ihrem Bildschirm mit den wichtigsten Nachrichten - unabhängig davon, ob srf.ch gerade geöffnet ist oder nicht. Klicken Sie auf einen der Hinweise, so gelangen Sie zum entsprechenden Artikel. Sie können diese Mitteilungen jederzeit wieder deaktivieren. Weniger

Sie haben diesen Hinweis zur Aktivierung von Browser-Push-Mitteilungen bereits mehrfach ausgeblendet. Wollen Sie diesen Hinweis permanent ausblenden oder in einigen Wochen nochmals daran erinnert werden?

Meistgelesene Artikel