Am Telefon warnt er, dass seine Leitung abgehört und seine E-Mails gelesen werden. William Binney weiss, wovon er spricht: Über 30 Jahre lang stand er im Dienst des US-Geheimdienstes National Security Agency, NSA. Nach den Terroranschlägen von 9/11 aber sah er, dass das von ihm erfundene Überwachungsprogramm missbraucht wurde, er kündigte.
Binney sagt, er habe ein Programm zur Internet-Spionage mit weitreichenden Schutzmechanismen entwickelt, so dass nur mutmassliche Terroristen und ihr nächstes Umfeld überwacht worden wären. «Aber das Weisse Haus und die Direktoren der NSA wollten das nicht. Sie strichen die Verschlüsselung und liessen einfach alle Daten sammeln!»
Binney: Der Geheimdienst zapft alles an
Binney erzählt «10vor10», wie sich der Geheimdienst anfangs der 2000er-Jahre klandestin in Schaltzentralen von Telefongesellschaften einmietete. In geheimen Räumen liess die NSA alle Telefon- und Internetdaten kopieren und an ihre Zentrale nach Fort Meade leiten.
In den USA gäbe es rund zehn bis 20 solcher Schaltzentralen, sagt Binney. Er gehe davon aus, dass der Geheimdienst alle anzapft. Da auch der Inhalt der Gespräche gesammelt werde, müsse die Speicherkapazität massiv ausgebaut werden.
Genau das tut die NSA aktuell in Bluffdale (Utah), wo ein gigantischer Datenspeicher auf rund 100'000 Quadratmetern entsteht. Mathematiker Binney schätzt, dass dort die Kommunikation der ganzen Welt während der letzten 100 Jahre gespeichert werden kann.
Whistleblower gerät ins Fadenkreuz des FBI
Anders als Edward Snowden protestierte Binney intern bei seinen Vorgesetzten über die unkontrollierte Datensammelwut. Nach 9/11 hatte der ehemalige Präsident Bush in einem geheimen Entscheid verfügt, dass es dafür keine gerichtliche Bewilligung brauche. Binney kritisierte das Vorgehen als Verstoss gegen die Verfassung.
Die Schlapphüte wollten nichts davon hören. Bestraft wurde der Überbringer der schlechten Nachricht: Eines Morgens stand rund ein Dutzend Männer des FBI vor William Binneys Haustür. Er sagt, sie hätten ihre Waffen auf seine Frau gerichtet, die sich gerade anzog, und auch auf ihn, als er aus der Dusche kam. Danach hätten sie ihn drei Stunden lang verhört.
Angeklagt wurde Binney nie, dafür kam der damalige Präsident Bush unter Beschuss, als die «New York Times» 2005 enthüllte, dass er Telefone ohne gerichtliche Erlaubnis überwachen lässt.
«Die Aufsichtskommissionen haben keine Ahnung»
Unter Obama habe sich nicht viel verändert, sagt NSA-Spezialist und Buchautor James Bamford: «Die Überwachung ist nun gesetzlich erlaubt. Aber das Gesetz ist geheim.»
Die gesammelten Daten sind unter Obama explodiert. Der Präsident aber versuchte erst Anfang Juni, an die Angelegenheit herunterzuspielen: Der Kongress habe die Überwachungsprogramme mehrfach bewilligt, und die Parlamentarier würden laufend über die Aktivitäten des Geheimdienstes informiert.
«Ein Witz», sagt Binney. Die parlamentarischen Aufsichtskommissionen hätten keine Ahnung, was der Geheimdienst tut.
US-Geheimdienstchef lügt Parlamentarier an
Ein Beispiel dafür war im März die Frage des langjährigen Aufsichtsmitglieds und Senators Ron Wyden an Geheimdienstchef James Clapper. «Sammelt der Geheimdienst die Daten von Hunderten Millionen Amerikanern?» «Nein», sagte Clapper und kratzte sich nervös am Kopf.
Der Geheimdienstchef log – drei Monate später wurde das durch die Enthüllung Snowdens klar. Clapper hat sich unterdessen beim Kongress entschuldigt.
Binney sagt, die Schlapphüte würden immer nur so viel zugeben, wie man ihnen beweisen könne. Er schätzt, dass seit 9/11 rund 300 Millionen Amerikaner observiert worden sind.
Geheimes Gericht: Für Kritiker ein Abnickergremium
Unter Obama muss die Regierung eine Ermächtigung vom Gericht für die Ueberwachung des Auslandgeheimdienstes (FISA) einholen, wenn sie den Inhalt von Gesprächen abhören will. In den USA sind in der letzten Woche kritische Stimmen laut geworden, die dem Gericht vorwerfen, ein reines Abnickergremium zu sein.
Ein ehemaliger FISA-Richter kritisierte, dass das Gericht einseitig über die Anfragen der Regierung entscheiden müsse, weil es die Gegenseite nicht höre. Die Entscheide sind geheim. Bekannt ist nur, dass von 2004-2012 über 15'000 Gesuche gestellt und gerade mal sieben abgelehnt wurden.
Internetgiganten verdienen am Datenklau
Genauso entstünden totalitäre Staaten, sagt NSA-Experte Bamford: «Sie haben geheime Gesetze, geheime Gerichte und geheime Überwachungslisten.»
NSA-Whistleblower Binney verweist auf die Industrie, die der Geheimdienst geschaffen hat: Internet- und Telefongiganten wie Google und Verizon würden vom Staat Millionen für die Daten bekommen, die sie zur Verfügung stellen. «Sie haben ein persönliches Interesse daran, dass weiterhin gesammelt wird.»
Er, Binney, habe einen Weg aufgezeigt, um die Privatsphäre der Bürger zu schützen. Bush habe das nicht gewollt – ebenso wenig Obama heute.