SRF News: Welche Strategie lässt Russland im Nordkaukasus gegen den IS erkennen?
Peter Gysling: Im erbitterten Kampf zwischen russischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten wird allgemein äusserst hart vorgegangen. In der russischen Kaukasus-Republik Dagestan kommt es praktisch jede Woche zu Schiessereien.
Wie geht Russland konkret vor?
Wenn die Polizeikräfte in einem Haus bewaffnete Extremisten vermuten, wird nicht etwa versucht, diese Gruppe zu entwaffnen und zu verhaften. Es wird mit ganz rigorosen militärischen Mitteln gekämpft. Nach solchen Polizeiaktionen heisst es dann, die Sicherheitskräfte hätten beispielsweise 14 mutmassliche Terroristen liquidiert. Es gibt also keine Gerichtsverfahren, sondern es wird brutal getötet. Beide Seiten gehen unzimperlich vor. Natürlich auch die Extremisten. Aber es kommt auch immer wieder zu staatlicher Willkür in diesem sogenannten Antiterror-Kampf.
Kann Russland die Terroristen mit militärischen Mitteln allein bekämpfen?
Bisher ist das nur sehr eingeschränkt gelungen. Man müsste den Extremismus meiner Meinung nach an tieferer Wurzel packen. Viele junge Männer werden im Nordkaukasus gewissermassen direkt in die Hände von Extremisten getrieben. Viele Jugendliche haben überhaupt keine Berufsperspektiven und werden wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit auch in Zentralrussland geächtet. Sie finden dann willkommene Aufnahme bei den Extremisten.
Müsste Russland nicht ein Interesse daran haben, die Republiken wirtschaftlich zu unterstützen, damit sich weniger Jugendliche dem IS anschliessen?
Das versucht Russland. Es fliessen sehr viele Gelder nach Tschetschenien, nach Dagestan und nach Inguschetien. Aber diese Gelder versickern dort teilweise. Es gab übrigens unter Präsident Medwedew ein Projekt, bei dem versucht wurde, reuige Extremisten in die Gesellschaft zu reintegrieren. Unter Präsident Putin aber wurden diese Programme grösstenteils wieder aufgegeben. Zudem wirken auch die beiden Tschetschenien-Kriege in der Region nach. Die Skepsis der dortigen Bevölkerung gegenüber der Zentralmacht in Moskau ist entsprechend gross.
Kann man sagen: Russland ist selbst Teil des Problems?
Russland hat sich gewissermassen ins Problem mitverstrickt. Das autoritäre Regime des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow beispielsweise wird von Moskau geduldet, auch wenn sich Kadyrow nicht ans Gesetz hält. Das fördert den Frust und den Hass in der Bevölkerung. Hass, der schliesslich in Extremismus münden kann.
Viele Kämpfer aus dem Nordkaukasus haben sich zuletzt der Terrormiliz IS im Irak und Syrien angeschlossen. Auch das «Kaukasus-Emirat» selber hat jüngst dem IS seine Treue geschworen. Was bedeutet das für Russland?
Es ist dem IS tatsächlich gelungen zwischen 2000 und 5000 Kämpfer in Russland anzuwerben. Übrigens nicht nur im Nordkaukasus, sondern auch in Moskau oder in St. Petersburg. Die Angst vor Anschlägen, welche Rückkehrer in Russland verüben könnten, ist äusserst gross.
Hier in Moskau gibt es beispielsweise am Eingang jeder Metro-Station einen Scanner, den die Passanten wie auf einem Flughafen durchschreiten müssen. Und auf jedem Bahnperron patroullieren Polizisten. Es kommt zu vielen Personenkontrollen. Auch an jeder Strassenecke hier in der Stadt gibt es Videokameras. Die russische Führung fürchtet sich bestimmt zu recht vor Anschlägen der Extremisten im eigenen Land.
Das Gespräch führte Miriam Knecht