Die Parlamentswahl in Indien war die grösste demokratische Abstimmung, die es jemals gegeben hat. Die Menschen gingen eifrig wählen und alle Umfragen sagen einen Machtwechsel voraus.
Demnach wird die derzeit regierende Kongresspartei um Rahul Ghandi für die hohe Inflation, das schwächelnde Wirtschaftswachstum und die zahlreichen Korruptionsskandale der vergangenen Jahre abgestraft. Stärkste Partei wird laut den Erhebungen die Hindu-nationalistische BJP mit Narendra Modi.
SRF-Südasienkorrespondentin Karin Wenger war vor Ort und hat die Wahl beobachtet.
SRF: Was hat sie bei der Parlamentswahl am meisten beeindruckt?
Karin Wenger: Das Ausmass und die Strapazen, welche die Wahlkommission und die Wahlhelfer auf sich nahmen. Sie gingen in die entlegensten Gebiete, Orte, die noch nie zuvor Besuch von einem Politiker erhielten. Die Leute nutzten die Chance zur Stimmabgabe rege, weil sie es als ihre Pflicht betrachteten. Demokratischer geht es nicht.
Kann eine Wahl mit 815 Millionen Stimmberechtigten überhaupt funktionieren?
Wenn man bedenkt, was für ein logistischer Grossakt diese Wahl war, funktionierte es erstaunlich gut. Die Wahlkommission gilt als eine der wenigen Staatsorganisationen, die nicht korrupt ist. Das kann man leider von den Politikern nicht behaupten.
Im Vorfeld schickten Parteien ihre Schlägertruppen los, um die Menschen unter Druck zu setzen. Oder sie heuerten Leute für 7 Franken pro Tag plus eine Flasche Whiskey für Wahlveranstaltungen an.
Ist die Korruption das, was die Menschen am meisten bewegt?
Einen Teil der Menschen sicher, vor allem in den Städten. Für Indien eine Generalaussage zu machen, ist aber immer schwierig. Das Land ist ein Kontinent und geprägt von riesigen Unterschieden. Bei den Regionalwahlen im letzten Jahr hat sich aber gezeigt: Die Partei, deren einzig erklärtes Ziel der Kampf gegen die Korruption war, hatte grossen Erfolg. Auf dem Land hingegen hört man die Leute oft sagen: Es sind zwar alle korrupt, aber das gehört zum Leben dazu.
Welches Thema beschäftigt denn die Leute auf dem Land?
Die Entwicklung. In Indien boomen die Städte. Die Taglöhner kommen vom Land in die Stadt, weil sie eben daheim keine Arbeit finden. Teilweise wird das Wasser knapp, die Ländereien sind zu klein und die Hilfsprogramme reichen bei weitem nicht oder kommen gar nicht erst an.
Sind die Anliegen auch unterschiedlich zwischen Jung und Alt?
Absolut, und das wird sehr ausschlaggebend sein bei diesen Wahlen. Denn von den 815 Millionen Wählern sind 150 Millionen Junge. Und viele dieser jungen Wähler wollen keine Gratisprogramme mehr. Sie wollen Jobs und wirtschaftliche Entwicklung. Deswegen dürfte für viele von ihnen Narendra Modi von der BJP interessant sein. Modi hat sich vom Teeverkäufer zu einem sehr reichen Mann gemausert – ein Vorbild für viele.
Kommt es in dem riesigen Land überhaupt darauf an, wer gewinnt?
Es kommt darauf an, wen man fragt. Ein Muslim wird unter keinen Umständen Modi wählen – weil Modi wohl bei Unruhen zwischen Muslimen und Hinduisten letztere unterstützen würde. Bei einem Wirtschaftsmann steht wiederum die BJP in der Gunst, die die Grossindustrie unterstützt und Jobs schafft. Einem Bewohner eines kleinen Bergdorfes spielt es hingegen überhaupt keine Rolle. Sie sehen das pragmatisch: Wenn nicht einmal die nahem Lokalpolitiker sich um sie kümmern – warum sollte das ein Parlamentarier im fernen Delhi tun?