Aus vereinfachter westlicher Optik lässt sich die Gemengelage im Bürgerkriegsland Syrien klar entschlüsseln: Die Bevölkerung wird von einem Unrechtsregime tyrannisiert. Diktator Assad, die Geissel des eigenen Volks, muss weg, und mit ihm die Terrormiliz IS, deren Barbarei ein militärisches Eingreifen unabdingbar macht.
Mithilfe der gemässigten Opposition soll das geschundene Bürgerkriegsland neu aufgebaut, ja zu einem Leuchtturm der Freiheit und Demokratie in der Region werden. Das unvermittelte Eingreifen Russlands, samt seinen neu erwachten Grossmachtphantasien, torpediert diesen westlichen Fahrplan zum Frieden.
Und noch viel mehr: Die militärische Intervention des Kremls gibt Syrien endgültig dem Chaos preis und schürt die Gefahr eines neuen Kalten Krieges.
Ein Nahost-Kenner erhebt Einspruch
«Halt!», sagt der Nahost-Experte und Publizist Michael Lüders. Für ihn hat sich der Westen in Syrien verkalkuliert – und verfolgt selber knallharte geopolitische Interessen. Die sogenannt gemässigte Opposition rede der Westen fernab der Realität stark. Eine Zukunft ohne das Regime bleibe Wunschdenken. Russland agiere weit rationaler, als man es dem zum «Reich des Bösen» entstellten Kreml zugestehen wolle. Und vor allem: Die militärische Interventionspolitik der USA und ihrer Verbündeten in der Region sei grandios gescheitert.
In den strategischen Verfehlungen und Umwälzungen in der islamischen Welt erkennt Lüders die Rückkehr zu einer multipolaren Weltordnung – und auch Europa müsse seine Aussenpolitik, vor allem aber seine unhinterfragte transatlantische Allianz, neu überdenken. Der Nahost-Experte vertritt damit in unseren Breitengraden wenig gehörte, auch provokante Thesen, und tariert sie im Gespräch mit SRF weiter aus.
Der Westen ist in seiner Politik ratlos, weil er über Jahre hinweg den Sturz von Assad propagiert hat, aber keine Strategie hatte.
«Keiner der Akteure, der in Syrien eingreift, wird geleitet von der Sorge um das Wohlergehen der syrischen Bevölkerung, die einen furchtbaren Preis bezahlt.» Mit diesen Worten plädiert Lüders für einen ungeschönten Blick auf den «Stellvertreterkrieg» in Syrien – und hinterfragt die Motive der Allianz des Westens, der Golfstaaten und der Türkei.
«Ihr Eingreifen hat wenig mit der Brutalität des Assad-Regimes zu tun, sondern vor allem damit, dass Syrien der einzige Verbündete des Iran in der arabischen Welt und der einzige Verbündete Russlands in der Region ist.»
Gerade die USA hätten schon lange vor dem Bürgerkrieg auf einen Sturz Assads hingearbeitet, ja sogar die religiösen Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten gezielt geschürt – und damit den Geist aus der Flasche gelassen, der heute die ganze Region bedroht.
Die innenpolitische Dynamik spricht nicht dafür, dass die Mehrheit der Syrer den Sturz Assads will.
Russlands militärische Intervention will Lüders nicht beschönigen. Für irrational hält er sie aber nicht: «Russland ist damit eine Eskalationsstufe weiter gegangen, indem es seine Interessen – aus seiner Sicht – legitim vertritt.» Russland, aber auch Iran und China wollten verhindern, dass der Westen nach Libyen und Irak ein weiteres arabisches Land vereinnahmten.
Die Russen und Iraner würden in Syrien Fakten schaffen, prognostiziert Lüders: «Das bedeutet jedoch nicht die Stabilisierung der Lage, sondern dass das syrische Kernland unter der Kontrolle des Regimes bleiben wird.»
Würde das Regime dagegen fallen, wie es der Westen anstrebe, drohten verheerende Massaker an den religiösen Minderheiten: «Der IS oder eine andere islamistische Gruppierung wird in Damaskus einmarschieren.»
Die Minderheiten hätten «panische Angst» vor dem Siegeszug des IS, deswegen unterstützten sie das Regime. «Ihnen ist die Pest Assads immer noch lieber als die Cholera eines islamistischen Sieges.»
Die alte Weltordnung mit den USA als hegemoniale Macht hat sich überlebt.
Die vermeintlich fehlgeleitete Interventionspolitik des Westens, angeführt von den USA, hat nach Ansicht des Nahost-Experten Folgen – weitreichende sogar: «Das Momentum, das wir in Syrien sehen, ist ein offenkundiger Hinweis darauf, dass sich die alte Weltordnung mit den USA als führende hegemoniale Macht im Nahen Osten und der Welt überlebt hat.»
Lüders mahnt an, dass Europa im Lichte dieser Entwicklungen die transatlantische Allianz neu beurteilen soll. «Die Zerstörung Syriens und auch des Irak haben eine massive Flüchtlingskrise ausgelöst.» Letztendlich zahlten die Europäer den Preis für eine verfehlte, vor allem von den USA und Grossbritannien getragene, militärische Interventionspolitik in Irak, Syrien und Libyen.
Europäische Regierungen müssten mit grösserem Selbstbewusstsein eigene Interessen wahrnehmen, fordert Lüders: «Wir müssen mit den Flüchtlingen fertig werden, und wenn uns das nicht gelingt, haben wir ein massives Problem mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Der innere Frieden ist massiv bedroht.»