Die Regierung von Italiens Ministerpräsident Enrico Letta steht vor dem Aus. Schuld daran ist Silvio Berlusconi, der die jüngste Krise provoziert hat. Er bewog all seine Minister der Partei «Volk der Freiheit» (PdL) zum Rücktritt.
Letta reagierte und wird am Mittwoch die Vertrauensfrage stellen. Was kommt auf Italien zu? SRF-Italien-Korrespondent Philipp Zahn hat den Politkrimi beobachtet und beschreibt mögliche Szenarien.
SRF News Online: Wird Letta die Vertrauensfrage am Mittwoch gewinnen?
Philipp Zahn: Letta sagte, dass er nicht wisse, was passiere. Aber alles läuft auf Folgendes hinaus: Hinter verschlossenen Türen wird an einer neuen Mehrheit im Senat gearbeitet, die am Mittwoch das erste Mal zum Tragen kommt.
Wie viele Stimmen braucht Letta?
Um weiter regieren zu können, benötigt er mindestens 161 Stimmen. Momentan hat er 107 Stimmen seiner Partito Democratico. Mit den 7 Stimmen der Linken und 50 der 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo könnte er eine Mehrheit schaffen. Aber es rechnet niemand damit, dass die 5-Sterne-Bewegung Letta die Stimmen geben wird, zumal sie schon im Vorfeld stets ihre Unterstützung verweigert hat.
Letztendlich könnte Letta unter anderem mit den Stimmen aus den autonomen Provinzen auf 144 Stimmen kommen. Das sind zu wenig. Es geht nun also darum, bis Mittwoch etwa 20 Senatoren aus dem Berlusconi-Lager der PdL umzustimmen.
Wie kann Letta das schaffen?
Vier Exponenten, vier von den fünf zurückgetretenen Ministern, haben das Prozedere Berlusconis kritisiert. Sie wollen trotz ihres Rücktritts den Konfrontationskurs Berlusconis nicht länger unterstützen. Das könnte andere Parteimitglieder dazu ermutigen, aus der Parteidisziplin auszubrechen. Was dann entstehen könnte, ist eine neue Mitte unter anderem aus Abtrünnigen der PdL, die der Letta-Regierung die nötige Stimmen-Mehrheit verschafft.
Letta versucht, PdL-Abtrünnige für sich zu gewinnen. Berlusconi aber wird wohl nicht untätig bleiben. Welche politischen Chancen bleiben ihm?
Keine. Fakt ist: Berlusconi muss aufgrund seiner Verurteilung als Steuerbetrüger all seine politischen Ämter abgeben. Das entschied das Oberste Gericht. Wie lange er nicht mehr politisieren darf, darüber wird das Berufungsgericht in Mailand am 19. Oktober befinden – auf der Basis einer Empfehlung, die der Senatsausschuss kommenden Freitag abgeben wird.
Verliert Berlusconi tatsächlich Partei-Mitglieder, bedeutet dies das Aus der PdL. Ob sich Berlusconi von diesem Schlag erholen kann, ist fraglich. Dass er an einem Urnengang nochmals eine Mehrheit hinter sich scharen kann, ist für mich unvorstellbar. Selbst sein harter Kern wird schmelzen. Es geht jetzt nur noch um einen einigermassen anständigen Abgang Berlusconis.
Nehmen wir an, Letta verliert die Vertrauensabstimmung. Was passiert dann?
Dem Staatspräsidenten Giorgio Napolitano bleibt in diesem Fall nur Folgendes übrig: ein Datum für Neuwahlen bestimmen und eine Übergangsregierung mit einem Technokraten oder einer institutionellen Person wie beispielsweise dem Senatspräsidenten einsetzen. Aber auch diese Person müsste im Parlament über eine Mehrheit verfügen.
Wenn sie das nicht hat?
Dann trifft der schlimmste Fall ein: Der Staatspräsident löst beide Kammern auf. Gewählt wird im November. Enrico Letta ist bis dahin als Interimspräsident damit beauftragt, die Amtsgeschäfte weiterzuführen.
Mit welchem Ausgang rechnen Sie?
Vorzustellen ist, dass Letta eine knappe Mehrheit bekommt. Ob das Letta ausreicht, bis zum Ende der Legislaturperiode 2018 zu regieren, ist allerdings fraglich.
Welcher Weg führt Italien aus der Krise?
Der Bürger muss wieder Vertrauen in die Politik gewinnen. Lange zählte Italien zu den westlichen Demokratien mit der höchsten Wahlbeteiligung. Inzwischen haben sich viele Menschen von der Politik abgewendet. Sie sehen in ihr nur noch Schlechtes. Sie müssen wieder das Gefühl bekommen, dass die Politiker nicht auf einem anderen Stern leben. Letta wäre die geeignete Figur, das Vertrauen wieder aufzubauen. Er ist ein Vermittler, ein Vertreter der neuen Generation. Müsste er nach wenigen Monaten aufgeben, wären viele enttäuscht.