SRF News: Angela Merkel will zum vierten Mal Kanzlerin werden, obwohl sie seit Beginn der Flüchtlingskrise an Zustimmung eingebüsst hat. Was treibt sie dazu an, nochmals anzutreten?
Heribert Prantl: Ich denke, ihre Motivation ist die unsichere Lage in Europa und der ganzen Welt. Viele Staatsmänner, mit denen sie Umgang hatte, stehen wahrscheinlich vor der Ablösung – in Italien, in Frankreich oder den Niederlanden. Die Nationalisierung – vor allem in Osteuropa – führt dazu, dass die demokratische Stabilität und jene Europas wackeln. Hier sieht sie sich in der Verantwortung. Und schliesslich ist es auch so, dass es innerhalb der CDU derzeit keinen potenten Nachfolger gibt.
Daran ist die Kanzlerin ja nicht ganz unschuldig. Zwar hatte sie ihrem Vorgänger Kohl vorgeworfen, keinen Nachfolger aufgebaut zu haben. Sie selbst tat dies aber auch nicht.
Tatsächlich gilt sie als Politikerin, die ihre Konkurrenten sozusagen weggebissen hat. Also keinem die Möglichkeit gab, neben ihr zu einem Konkurrenten heranzuwachsen. Nur: Ein Politiker, der wirklich stark ist, lässt sich davon nicht beirren. Tatsache ist, dass es derzeit in der CDU keinen mit einer vergleichbaren Potenz gibt. Und bei einem Grossbrand – um ein Bild für die aktuelle politische Weltlage zu bemühen – macht es keinen Sinn, dass die Feuerwehrchefin abtritt.
Lange hat sie Deutschland rätseln lassen, ob sie wieder antritt. Welches Kalkül steckte dahinter?
Meines Erachtens hat Merkel stärker geschwankt, ob sie überhaupt antreten will, als es den Anschein machte. Einerseits war da die Wahl Donald Trumps als US-Präsident. Andererseits das angespannte Verhältnis innerhalb der CDU/CSU-Fraktion. Die ständigen Attacken von CSU-Chef Seehofer haben sie mürbe gemacht. Merkel trieb die Frage um, was will die Partei – und was kann ich ihr geben?
Doch – ähnlich wie früher Kohl – ist sie eine Politikerin, die lange zuschaut, bis sich die Dinge quasi von selber entscheiden. Und dabei zeigte sich: Eine Alternative zu ihr bietet sich schlicht nicht an.
In vielen Bundesländern ist die rechtspopulistische AfD auf dem Vormarsch. Das schadet primär der CDU. Wie stehen denn die Chancen, dass Merkel nochmals Kanzlerin wird?
Laut aktuellen Umfragen wollen 58 Prozent der Bundesbürger, dass Merkel nochmals Kanzlerin wird. Darunter auch viele, die nicht aus ihrem politischen Spektrum stammen. Unter den CDU-Sympathisanten stehen gar 87 Prozent hinter ihr. Das sind immer noch beachtliche Zahlen.
Trotz aller Kritik an ihrer Haltung in der Flüchtlingskrise, glaube ich, dass die Wähler angesichts der unsicheren Weltlage auf Merkels Erfahrung, Solidität und Stabilität setzen werden. «Sie kennen mich», sagte sie im TV-Duell bei der letzten Wahl zur Kanzlerin. Und genau das wird das stärkste Argument für eine Wiederwahl sein.
Könnte die überraschende Wahl Trumps in den USA nicht jenen deutlich Aufschub geben, die rechtspopulistischen Ideen anhängen – und ihre Wahl damit verhindern?
Es gibt diese Theorie, ja. Aber ebenso gibt es die Theorie, dass Menschen in unsicheren Zeiten auf Politiker setzen, die sie gut kennen. Zudem: Es gibt für sie viele Möglichkeiten einer künftigen Regierungsbildung. Eine erneute Grosse Koalition oder eine Koalition mit Grünen und FDP – bei der einiges dafür spricht, dass sie es wieder in den Bundestag schafft. Ich habe deshalb wenig Zweifel, dass die nächste Bundeskanzlerin wieder Angela Merkel heisst.
Welche wird denn die grösste Herausforderung der neuen Kanzlerin sein?
Angesichts der nationalistischen und populistischen Strömungen in Europa, stellt sich nun die Frage: Welche Gesellschaft wollen wir? Wie können wir ein besseres Europa der Bürger schaffen, das wieder Begeisterung weckt? Das wird die grosse Herausforderung sein.
In der Vergangenheit zeigte Merkel kein grosses Gespür für die Sensibilitäten vor allem der südeuropäischen Länder. Man denke an ihre Haltung gegenüber dem krisengeschüttelten Griechenland. Da hätte ich mir manchmal einen Kanzler Kohl zurückgewünscht, der einen Sensus dafür hatte – und wirklich europäisch dachte. In jüngerer Zeit hat sie aber viel dazugelernt. Sie hat gelernt, europäisch zu sein.
Nach der Wahl Trumps schrieb die «New York Times», Merkel sei nun die eigentliche «Verteidigerin des liberalen Westens». Will sie diese Rolle überhaupt?
Natürlich will sie, aber sie wird dies nie so sagen. Merkel war nie eine auftrumpfende Rednerin, sondern immer eine Pragmatikerin. Das zeigte sich ja auch nach ihrem Entscheid, die Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Sie hielt damals keine Rede, um sich zu erklären, obwohl sie es hätte tun sollen. Aber sie zeigte Haltung – trotz des Sturmes der Kritik.
Sendebezug: SRF 4 News, 15 Uhr