SRF News: 40 Jahre Haft für Radovan Karadzic, aber nicht lebenslänglich. Ist das verhältnismässig milde Urteil überraschend?
Stefan Trechsel: Das ist sehr überraschend. Jedermann hat eine lebenslange Strafe erwartet und zwar im Vergleich mit anderen Verantwortlichen für das Massaker in Srebrenica. Zum Beispiel General Zdravko Tolimir, dem bei weitem nicht die gleiche Zahl an Verbrechen angelastet wurde, bekam lebenslänglich und konnte auch vor der Berufungskammer kein milderes Urteil erwirken. Das Urteil ist darum für mich überhaupt nicht nachvollziehbar.
Wie haben die Richter dieses Strafmass begründet?
Die Kammer hat zwei Umstände als mildernd eingestuft: sein korrektes Verhalten vor Gericht und dann den Umstand, dass Karadzic nach Gesprächen mit dem US-Sondergesandten Richard Holbrooke «freiwillig» von seinen Parteiämtern zurückgetreten ist. Für mich sind diese Gründe nicht stichhaltig. Die Zahl und Schwere der Verbrechen ist so enorm, dass diese beiden Umstände nicht das Strafmass lebenslänglich verringern können. Ich habe das etwas ‹weich› gefunden, muss ich gestehen, bei allem Respekt vor allem für den vorsitzenden Richter.
Karadzic stand nicht im Feld, er war nicht ein General, er war der politische Kopf, der die gewaltsame Verfolgung und Vertreibung der bosnischen Muslime und Kroaten angeordnet hat. Wie schwierig ist es eigentlich, Beweismittel gegen einen Schreibtischtäter zu finden, die vor Gericht Stand halten?
Das ist sehr schwierig und es ist eine typische Schwierigkeit für internationale Strafgerichtshöfe. Man muss aus Indizien darauf schliessen, dass die betreffende angeklagte Person wirklich die Hände am Steuer des Geschehens hatte, das schliesslich zu den Verbrechen führte.
Und wie konnte das Radovan Karadzic nachgewiesen werden?
Durch vielfältige Beweismittel. Es war ein umfangreiches Verfahren und es sind von der Anklage etwa 200 Zeugen vorgebracht worden. Es gab zehntausende Seiten von Dokumenten und Karadzic selbst hat sich ein wenig ans Messer geliefert durch seine extremen Statements.
Schon nur die Anklageschrift umfasste 40 Seiten und der Prozess dauerte acht Jahre. Kann man solche Prozesse nicht schlanker halten?
Das habe ich mir, als ich selber dort am Gericht arbeitete, auch überlegt. Es gibt wohl gewisse Aspekte, die man vereinfachen könnte. Vorallem gibt es ja schon mehrere Urteile, bei denen Täter für schuldig befunden wurden, etwa wegen des Massakers von Srebrenica. Das hätte man wohl etwas robuster als Beweis auch in diesen Prozess übernehmen können. Aber jeder Angeklagte hat natürlich seine Verteidigungsrechte und die kann man ihm nicht einfach abschneiden. Deshalb dauert das lange und das ist unbefriedigend, das gebe ich gerne zu.
Weshalb wird immer in so vielen Punkten angeklagt? Sucht das Tribunal die Publizität?
Die erste Anklage formulierte Carla Del Ponte, die sehr darauf bedacht war, alle Verbrechen zur Anklage zu bringen, weil sie meinte ‹ich bin das den Opfern schuldig›.
Radovan Karadzic kann gegen das Urteil Berufung einlegen und die Berufungskammer dieses Jugoslawientribunals hat schon Urteile umgestossen. Vor drei Jahren etwa wurde der kroatische General Gotovina freigesprochen. Kann sich das nochmals wiederholen?
Ich bin sehr kritisch gegenüber dem Gotovina-Berufungsurteil und sehe eigentlich keine Gefahr, dass das auch bei Karadzic passieren könnte.
Als die UNO das Haager Tribunal 1993 gegründet hat, ging wohl niemand davon aus, dass es 23 Jahre später immer noch aktiv ist. Ist diese Langlebigkeit ein Zeichen des Erfolg oder des Misserfolgs?
Man kann schon sagen, dass es ein Zeichen des Erfolgs ist. Ursprünglich hat niemand daran geglaubt, dass das tatsächlich zu Stande kommt. Man dachte, das sei «pour la galerie», aber jetzt sind doch 161 Personen irgendwie erfasst worden und es hat viele Urteile gegeben.