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International «Kitsch und immer mehr Stalin-Kult»

Mit einer Militärparade feiert Russland heute den Sieg über Nazi-Deutschland. Doch das Gedenken an die Opfer der Kriegsveteranen und ihrer Nachfahren ist längst zur unerträglichen und anti-westlichen Politpropaganda mit wachsendem Stalin-Kult verkommen, sagt die Historikerin Irina Sherbakova.

Wer sich kritisch zur Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg kritisch äussert, hat es heute schwer in Russland. Eine solche Stimme ist die Historikerin und Publizistin Irina Sherbakova, die unter anderem für die Menschenrechtsorganisation «Memorial» arbeitet.

SRF: Ist der «Tag des Sieges» als wichtigster Feiertag Russlands auch für Sie ein Grund zum Feiern?

Irina Sherbakova: Für mich und meine Familie war es einst der wichtigste Tag des Jahres. Denn mein Vater war 19 Jahre alt, als er in Stalingrad zum Kriegsinvaliden wurde. Es war das Hauptereignis seines Lebens. Entsprechend war es kein Feier-, sondern ein Trauertag. Er sass mit Freunden zusammen, die auch in der Armee waren, wobei alle seine Kameraden gefallen sind. So war es überall; schon vor 1965, als der 9. Mai zum offiziellen sowjetischen Feiertag erklärt wurde. Damals waren noch viele Frontsoldaten am Leben. Sie alle wussten, dass es ein tragischer Tag ist, weil der Preis für jede Familie so unermesslich hoch war.

Marsch zum 71. «Tag des Sieges» auf dem Roten Platz in Moskau.
Legende: Marschieren zum 71. «Tag des Sieges» auf dem Roten Platz in Moskau. Keystone

Wird die heutige Militärparade den damaligen Ereignissen noch gerecht?

Es ist ganz klar ein Missbrauch dieses Datums, der so massiv bereits in den Siebzigerjahren angefangen hat. Und zwar als Ersatz für alles, was zusehends verschwand: Der Glaube an den Kommunismus und an eine glückliche kommunistische Zukunft. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde zum eigentlichen Kitt angesichts der Erkenntnis, dass diese Sowjetunion sehr leicht zerfallen könnte. Heute ist das Ereignis propagandistisch vollständig ausgehöhlt. Noch viel stärker als zu Zeiten Breschnews ist der Anlass zum kitschigen Ersatz für die fehlenden Perspektiven der heutigen Gesellschaft geworden.

Für meine Generation ist die Verkitschung unerträglich – etwa die Kinder in Uniformen und die als Panzer geschmückten Kinderwagen.
Autor: Irina Sherbakova Historikerin und Publizistin

Geschichte wird in Russland allgemein stark instrumentalisiert. Wie zeigt sich das im Alltag?

Äusserlich vor allem in der Verkitschung von Kriegssymbolen an Tagen wir heute. Innerlich konzentriert sich propagandistisch wirklich alles auf diesen Krieg, auf den Nationalstolz und auf die Beschwörung vom starken Russland. Dazu spürt man überall eine sehr starke anti-westliche Stimmung. Ein Tag lang russisches Fernsehen mit seinen politischen Talkshows und Nachrichten umschreibt es am besten.

Dazu kommt die schleichende Wiederbelebung des Stalin-Kults. Das zeigt sich gerade in diesen Tagen mit den Kundgebungen der marschierenden Kommunisten und ihren Stalin-Bildern.

Auch gibt es viele Plakate mit dem Stalin-Konterfei und kleinere und grössere Denkmäler. Das sind ganz gefährliche Signale, die wir als Historiker wahrnehmen müssen. Denn wir wissen, was Stalin tatsächlich symbolisiert. Es ist ein regelrechter Kampf in der Gesellschaft, schon fast wie vor 50 Jahren zwischen Stalinisten und Anti-Stalinisten.

Das Gespräch führte Roger Aebli.

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