Darum geht es: Nach dem brutalen Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf Israel und dem anschliessenden Krieg in Gaza wird diskutiert, ob sich die israelischen Gegenschläge zu einem Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung ausgeweitet haben. Nun kommt Amnesty International (AI) als grösste Menschenrechtsorganisation zum Schluss, dass Israel einen Genozid begehe. Die Nichtregierungsorganisation legt dazu einen 296-seitigen Bericht mit dem Titel «Du fühlst Dich wie ein Untermensch – Israels Genozid gegen Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza» vor.
Die Völkerrechtskonvention: Amnesty bezieht sich dabei auf die von Israel 1950 ratifizierte UNO-Völkerrechtskonvention. So erfülle Israel drei von fünf Kategorien, die gemäss der Konvention den Tatbestand des Genozids umschreiben: die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe. Die Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe und die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten.
Der Zeitraum der Untersuchung: AI stützt sich auf die Zeit zwischen dem Hamas-Überfall auf Israel vom 7. Oktober 2023 bis zum Juli 2024. In diesem Zeitraum seien die Kriegshandlungen untersucht und über 200 Interviews mit palästinensischen Opfern, Zeuginnen, lokalen Beamten und medizinischem Personal in Gaza geführt worden. Dazu kommen Satellitenaufnahmen, die das Ausmass der Zerstörung dokumentieren. Eingang fanden laut AI sodann Dutzende genozidale Äusserungen israelischer Politiker und Militärs. Israel reagierte laut Amnesty nicht auf Anfragen zu einer Stellungnahme. Zu den Kriegsverbrechen der Hamas kündigte AI einen separaten Bericht an.
Genozidale Absicht bejaht: Ungeachtet der Anzahl getöteter Menschen ist für die Annahme eines Völkermords die Absicht der Täter entscheidend. AI-Generalsekretärin Agnès Callamard sagte gestern vor den Medien in Den Haag, Israels Behörden seien «sich nicht nur vollkommen bewusst» gewesen, dass ihr Verhalten zur physischen Zerstörung von Palästinensern in Gaza führen würde, sondern hätten genau das beabsichtigt. Das sei Genozid und genozidale Absicht.
Einschätzung einer Völkerrechtlerin: Völkerrechtlerin Janina Dill von der Universität Oxford weist darauf hin, dass es bei der Völkermordsabsicht spezifisch um die Auslöschung der Bevölkerung geht. Statements etwa über eine Ausdünnung der Bevölkerung könnten relevant sein, aber nur, wenn sie kriegsbestimmenden Entscheidungsträgern gemacht würden. Letztlich müssten Gerichte die strafrechtliche Kategorie Völkermord feststellen. Drittstaaten dürften aber nicht einfach zusehen, sondern müssten ihrer Präventionspflicht gemäss Völkerrechtskonvention nachkommen. Entsprechend wichtig sei es, dass Organisationen wie AI immer wieder auf die Lage in Gaza hinwiesen. «Der Grund dafür ist nicht, dass wir die Fakten nicht kennen, sondern dass viele wichtige Drittstaaten bisher auf die Faktenlage in Gaza nicht adäquat reagiert haben.»
Der Appell: Der AI-Bericht richtet sich in erster Linie an Israel mit der Aufforderung, den Genozid zu stoppen. Ebenso sei die internationale Gemeinschaft verpflichtet, alles zu unternehmen, um den Völkermord aufzuhalten. Von der Schweiz fordert AI, sich im UNO-Sicherheitsrat für ein Waffenembargo gegen Israel einzusetzen.