Die kommunistischen Bolschewiken waren rücksichtslos entschlossen vor 100 Jahren. Sie erschossen in der Nacht auf den 17. Juli den gefangenen Zaren Nikolaj II. und dessen Familie in einem Keller in Jekaterinburg. Dort versammelten sich diese Nacht Zehntausende und pilgerten 20 Kilometer zum Ort, wo die Leichen verscharrt wurden – heute ein Kloster. Russland-Korrespondent David Nauer zur Verklärung dieses Mannes und zur Suche der Russen nach ihren Wurzeln.
SRF News: Wie verlief die Prozession zu Ehren des letzten Zaren?
David Nauer: Es war eindrücklich. Angefangen hat alles mit einer russisch-orthodoxen Messe. Die anschliessende Prozession wurde vom Patriarchen und Kirchenoberhaupt Kyrill I. angeführt. Er wurde von vielen Geistlichen in prachtvollen Gewändern begleitet. Sie trugen zum Teil Ikonen. Dazu kamen Männer in historischen Uniformen und viele Frauen in traditionellen Röcken und Kopftüchern. Die Verehrung des letzten Zaren ist ein Massenphänomen geworden. Der Zar ist ja bereits auch ganz offiziell heiliggesprochen worden.
Der Zar wird von seinen Anhängern regelrecht verklärt. Woher kommt das?
Das hat damit zu tun, dass viele Russen irgendwie nach ihren Wurzeln suchen. Das alte Russland ging mit der kommunistischen Revolution von 1917 unter. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebt das alte Russland wieder eine kleine Renaissance. Gleiches gilt für die orthodoxe Kirche, die von den Kommunisten unterdrückt worden war. Sie knüpft nun wieder an ihre alte Rolle an, eine wichtige Rolle, die sie unter den Zaren hatte.
Es ist wirklich sehr eindrücklich, wie präsent der letzte Zar jetzt ist. Als wäre er erst gestern umgebracht worden. Eine Frau sagte am russischen Fernsehen, ihre Augen seien voller Tränen, und sie weine um den unschuldig Ermordeten. Es ist also eine regelrechte Verklärung des Zaren und damit auch eine Verklärung der Vergangenheit.
Kann man die Sehnsucht nach dem alten Russland auch als Kritik an Kremlchef Putin verstehen?
Es ist eher das Gegenteil: Der Zar steht für den allmächtigen Herrscher, der uneingeschränkt regiert hat. Es wird also eine Art Tradition heraufbeschworen, die Putins autoritäre Rolle eher stärkt und eigentlich sogar legitimiert.
Zarenverehrung und Stolz auf das ehemalige Sowjet-Imperium. Ist das nicht ein ideologischer Spagat?
Die Russen versuchen da tatsächlich etwas zusammenzubringen, das eigentlich gar nicht zusammengehört: Der Zar war gut, aber auch Lenin war gut, dessen Mumie bis heute als kommunistische Reliquie im Mausoleum auf dem Roten Platz liegt. Es ist eine sehr unkritische Art, die eigene Geschichte zu betrachten, die mir oft Mühe bereitet. Aber vielleicht geht es den Russen auch darum, sich mit dieser schwierigen und blutigen russischen Geschichte zu versöhnen und alles zusammenzubringen. Dafür nimmt man eben diesen Spagat in Kauf.
Das Gespräch führte Simon Leu.