Es war eine sonderbare Volte der Weltpolitik, die sich am 9. August vollzog. Kein Jahr nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets an der syrisch-türkischen Grenze traten in St. Petersburg zwei ziemlich beste Freunde vor die Medien: Kreml-Chef Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Vergessen schien der militärische Ernstfall, der weltweit Ängste vor einer Eskalation schürte und den Kreml zu umfassenden Wirtschaftssanktionen gegenüber Ankara veranlasst hatte. Erdogan bedankte sich bei «meinem Freund Wladimir» für die Unterstützung nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli. Russland habe, im Gegensatz zum Westen, seine Solidarität bewiesen.
Vergessen war auch, dass der Kreml-Chef Erdogan noch vor Jahresfrist schmutziger Geschäfte mit dem «Islamischen Staat» bezichtigt hatte.
Tauwetter nach der Eiszeit
Zwei Monate und diverse Telefonate nach dem Petersburger «Versöhnungsgipfel» reist Putin in die Türkei. Dass das Treffen weniger im Scheinwerferlicht der internationalen Medien steht, werten Beobachter als diplomatischen Erfolg: «Es gibt eine neue Normalität im bilateralen Verhältnis», sagt Benjamin Triebe, Korrespondent der NZZ in Moskau.
Nichtsdestotrotz: Am Rande des Weltenergiekongresses in Istanbul wird es weniger um Freundschaftsbekundungen als um handfeste Macht- und Wirtschaftsinteressen gehen. «Ich glaube nicht, dass Putin und Erdogan Freunde sind», so Triebe. «Aber beide sind erfahrene Machtpolitiker, die opportunistische Chancen erkennen.»
Wirtschaftliche Abhängigkeiten
Unter diesen ragt vor allem eine heraus: Das Mammutprojekt «Turkish Stream». Über die Mega-Pipeline will Russland künftig Gas vom Schwarzen Meer über die Türkei nach Europa leiten – vorbei an der in Ungnade gefallenen Ukraine.
Das Projekt hat auch für die Türkei höchste Priorität, weiss Luise Sammann, Journalistin in Istanbul: «Trotz aller Krisen und Katastrophen hier am Bosporus wächst die Wirtschaft weiter rasant, und damit auch der Energieverbrauch.»
Moskau-Korrespondent Triebe rechnet zwar mit Fortschritten bei «Turkish Stream». Bis die Bauarbeiten überhaupt beginnen, dürfte es allerdings noch ein Jahr dauern.
Putin und Erdogan sind nicht gerade als verlässliche Diplomaten bekannt.
Dass die beiden, so Sammann, «weitgehend isolierten Machtpolitiker» nun die Reihen schliessen, ist aus türkischer Sicht unabdingbar. Das Land erlebt die schlimmste Tourismus-Krise seiner Geschichte – auch wegen der Terroranschläge der letzten Monate: «In Istanbul stehen die Geschäfte im Grossen Basar reihenweise vor dem Bankrott, in Antalya die Strandhotels», so die Journalistin.
Ein «positives Wort» von Putin könne bei russischen Touristen, von denen noch 2014 4,5 Millionen ins Land strömten, einiges ausrichten. Nach dem Abschuss des russischen Kampfjets hatte der Kreml-Chef seinen Landsleuten Pauschalreisen in die Türkei untersagt.
Beredtes Schweigen zu Syrien
Wenig wortreich dürften hingegen die Verlautbarungen zum Krieg in Syrien ausfallen. Hier gibt es Widersprüche und divergierende Interessen zuhauf. Die gewichtigste: Während Russlands militärische Übermacht Baschar al-Assad im Amt hält, forderte Erdogan von allem Anfang dessen Rücktritt: «Nun hört man andere Töne aus Ankara, man denkt offenbar über eine Übergangszeit mit Assad nach», schildert Sammann.
Ein Beispiel der türkischen Zurückhaltung gegenüber Russland: «Während die russischen Bomben auf Aleppo international scharf verurteilt werden, wird das in Ankara auffällig wenig kommentiert».
Russland-Korrespondent Triebe findet es «sehr interessant», dass die Syrien-Frage bei der politischen Annäherung bislang weitgehend ausgeklammert werde: «Der Kreml ist sonst sehr aktiv darin, seine diesbezügliche Haltung nach aussen hin zu verkaufen.» Man möchte, so Triebe, Einigkeit betonen – und dafür liefert das Thema Syrien offenbar wenig Stoff.
Fragile Allianz
Dass das Nato-Mitglied Türkei nach dem gescheiterten Putsch seine Rolle in der Welt neu sondiert, scheint für Sammann offensichtlich: «Die Türkei hat derzeit wenig Vertrauen in die Amerikaner. Russland scheint die strategisch günstigste Option für Erdogan.» Denn nicht nur die US-Unterstützung für die syrischen Kurden belaste die Beziehungen, so Sammann: «Gerüchte, wonach die USA hinter dem Putschversuch stecken, sind hier sehr verbreitet.»
Wie belastbar die türkisch-russische Achse ist, ist jedoch fraglich. Man bewege sich, schliesst Moskau-Korrespondent Triebe, zwar wieder auf «relativ normaler Schiene. Ob es aber praktische und vor allem schnelle Resultate gibt – ob wirtschaftlich oder in Syrien – darf bezweifelt werden.» Sammann schliesst sich dem Fazit an, «zumal Putin und Erdogan nicht gerade als verlässliche Diplomaten bekannt sind.»