«Der Tod meiner Tochter ist das Schlimmste, was ich je ertragen musste», sagt Patrick Jardin. Der Vater verlor seine Tochter bei den blutigen Attentaten am 13. November 2015 auf das Pariser Konzertlokal Bataclan. Seine Tochter habe nur für die Arbeit und die Musik gelebt. «Sie war keineswegs rassistisch, sie wurde für nichts getötet», so der Vater. Er könne nicht vergeben – ihm bliebe nur das Gefühl von Hass und das Bedürfnis nach Rache.
Der französische Staat reagierte nach der Terrornacht im November 2015 mit harten Massnahmen. Der Sicherheitsappart wurde ausgebaut, Präsident François Hollande kündigte an, das Land und seine Bürger zu verteidigen und rief den Ausnahmezustand aus.
Das hiess: Mehr Militär, mehr Polizeipräsenz. Zudem können salafistische Moscheen geschlossen und Hassprediger ausgeschafft werden.
Seit über einem Jahr stehe ich nun unter Hausarrest. Ich habe mit all dem nichts zu tun.
Diese Massnahmen sind aber umstritten. Denn der Geheimdienst erhält viel mehr Kompetenzen. Der Staat kann Häuser durchsuchen und Leute unter Hausarrest stellen. Ohne richterlichen Beschluss, ohne Anklage, ohne Verfahren – die Angst vor dem Terror stellt Grundpfeiler eines Rechtsstaates in Frage.
«Ich hätte nie erwartet, dass die zu mir kommen», erzählt der 31-jährige Julien in der Rundschau. Der zum Islam konvertierte Franzose lebt in Lagny-sur-Marne, einer Gemeinde im Osten von Paris. «Seit über einem Jahr stehe ich nun unter Hausarrest», sagt er. Der Vorwurf: Terrorismusverdacht. Dreimal täglich muss er sich bei der Polizei melden, darf seine Gemeinde nie verlassen, muss in der Nacht in der Wohnung bleiben. Es sei ein Schock gewesen. «Ich habe mit all dem nichts zu tun», sagt er. Er verlor die Arbeit, das soziale Netz, lebt wie in einem Gefängnis unter freiem Himmel.
Der Grund: Julien betete in der Moschee seines Wohnortes. Nach den Anschlägen in Paris geriet diese ins Visier der Behörden. Der Staat stufte den Iman als radikal ein, den Ort als gefährlich und schloss die Moschee. Dass sich auch Julien in diesem Umfeld bewegt hatte, reichte, um sein Leben massiv einzuschränken.
Ab dem Moment, wo die Sicherheit einer Mehrheit der Franzosen in Frage gestellt wird, ist es besser, das Leben von einer oder zwei, oder drei oder vier Personen zu opfern, anstatt die Sicherheit der Mehrheit.
Julien selber bestreitet die Vorwürfe. Er sagt, er habe nie eine Anklage, Beweise oder einen Richter gesehen. Wenn wirklich etwas gegen ihn vorläge, soll man ihm das zeigen. Laut seinen Angaben stützt sich der Staat nur auf Informationen des Geheimdienstes, welche dieser aber nicht vorlegen muss.
Julien meint, die Politik wolle mit solchen Aktionen nur in der Öffentlichkeit Präsenz und Härte demonstrieren. «Sie machen nichts, um die Probleme zu lösen», sagt er. Zudem stünden Muslime mittlerweile unter einem Generalverdacht. «Aber wenn sie in einer Familie ein Problemkind haben, stempeln Sie auch nicht die ganze Familie ab, oder?»
Die Angst vor der Gewalt spaltet die Gesellschaft. Für Patrick Jardin, der seine Tochter bei den Attentaten verloren hat, ist es allerdings richtig, dass der Staat so hart durchgreift. «Ab dem Moment, wo die Sicherheit einer Mehrheit der Franzosen in Frage gestellt wird, ist es besser, das Leben von einer oder zwei, oder drei oder vier Personen zu opfern, anstatt die Sicherheit der Mehrheit», sagt er. «Es tut mir leid, da muss ich nicht mal gross abwägen.»
Gefahr der Radikalisierung
Laut offiziellen Angaben stehen aktuell noch 62 Personen unter Hausarrest. Der Ausbau der Kompetenzen der Sicherheitskräfte ist in Frankreich umstritten. Viele Experten sind sich einig, dass Hausarrest als kurzfristige Massnahme effizient sein kann – längerfristig aber kontraproduktiv. Die Gefahr, dass sich jemand so radikalisiere, wenn er seine Existenzgrundlagen verliere, steige.
Der Ausnahmezustand wurde nun mehrfach verlängert – sicher bis nach den Präsidentschaftswahlen. Julien bleibt nur eins: abzuwarten. «Eine Ungerechtigkeit lässt sich nicht mit einer anderen Ungerechtigkeit vergelten», sagt er. Vor kurzem wurde sein Hausarrest wieder um drei Monate verlängert.