Mystische Tempel, lachende Kinder und die majestätischen Berge des Himalaya: Das sind die gängigen Klischees zu Nepal, dem südasiatischen Staat zwischen China und Indien. In der Schweiz bekannt als Reisedestination von Backpackern und Berggängern; ein bisschen wie Tibet, nur weniger politisch aufgeladen.
30 Jahre lang Parteienverbot
Doch Nepal ist ein Entwicklungsland. Nahezu 27 Millionen Einwohner leben in einer äusserst jungen und äusserst wackeligen Demokratie. Es ist der dritte Demokratie-Versuch eines königlich geprägten Landes: Bereits in den 50ern hatte es ein kurzes Intermezzo von acht Jahren gegeben, bist der damalige König – der seine Kompetenzen nie verloren hatte – das soziale Experiment beendete und die Zeit des Panchayat-Systems einführte.
Damit waren Parteien verboten. Das nepalesische Volk hatte Pseudo-Wahlmöglichkeiten, die wahre Macht blieb in den Händen des hinduistischen Herrschers, andere Volksgruppen und Kasten wurden unterdrückt. Die Wende kam mit dem Ende des Kalten Krieges: Angespornt vom Fall des Eisernen Vorhangs schliesslich erzwang die erste Volksbewegung, die über mehrere Parteien breit abgestützt war, zumindest die Auflösung des Parteienverbots.
Bürgerkrieg: Maoisten gegen Armee
Doch weiterhin blieb König Birendra an der Spitze, die Parteien waren nur beschränkt handlungsfähig, die verschiedenen Regierungen zerrieben sich an der Situation. 1996 führte die erstarke maoistische Partei die Forderung nach einem demokratischen statt einem königlich geführten Parlament an – und griff zum Mittel des bewaffneten Kampfes. Dieser markierte den Beginn eines Bürgerkriegs: Er sollte zehn Jahre dauern und rund 13‘000 Tote sowie gegen 200‘000 Vertriebene fordern.
In jenem Jahrzehnt führte das Land die weltweite Liste der Anzahl verschwundener Menschen an. Tausende wurden – sowohl von der Armee wie auch den maoistischen Rebellen – gefoltert, vergewaltigt, verschleppt. Journalisten und mutmassliche Regierungsgegner wurden ohne Prozesse exekutiert.
Arbeitslosenquote bei 40 Prozent
Die Auswirkungen des blutigen Bürgerkriegs sind in Nepal bis heute zu spüren – trotz der Auflösung der Monarchie durch König Gyanendra im Jahr 2006. Er übergab die Macht dem neu gegründeten Repräsentantenhaus. Dieses rief einstimmig das ehemalige «Hindu-Königreich» zum säkularen Staat aus.
Doch die Folgen aus dem Bürgerkrieg lassen sich nicht so leicht überwinden. Die Arbeitslosenquote beträgt 40 Prozent, laut UNO leben rund zwei Drittel der Bevölkerung Nepals in Armut, die Lebenserwartung liegt bei 68,5 Jahren. Die Mehrheit der Nepalesen sind Hindus. Die Kiranti pflegen mit einer Fusion aus Hinduismus, Buddhismus und Animismus ihre eigene Religion. Als Kiranti werden die verschiedenen indigenen Völker des Landes bezeichnet.
100 verschiedene Volksgruppen in einem Land
In Nepal gibt es rund 100 verschiedene Volksgruppen mit ihren eigenen Dialekten. Die indigenen Minderheiten fühlen sich oft nicht von der Politik vertreten – wie auch die Mitglieder aus unteren Hindu-Kasten. Das Kastensystem erschwert den Ausstieg aus der Armut sowie den Zugang zu Gesundheit und Bildung.
Die Analphabetenrate in Nepal beträgt 30 Prozent, bei Frauen sind es mehr als 40. Es sind vor allem die Frauen, die enorm von Armut, Ausgrenzung, häuslicher Gewalt betroffen sind. Eine von 80 Müttern stirbt bei der Geburt eines Kindes. Wenn diese erst mal auf der Welt sind, haben sie einen schweren Start: In nicht wenigen Gegenden herrschen Hunger und Unterernährung, es mangelt an Bildung und medizinischer Versorgung. Das Stadt-Land-Gefälle ist enorm.
Landflucht und «Brain Drain»
So zieht es vor allem junge Menschen weg von den ländlichen, schlecht erschlossenen Gegenden in die Hauptstadt Kathmandu – oder ins Ausland. Arbeitsmigranten strömen in die reichen Golfstaaten; das bisschen Lohn aus der sklavenähnlichen Beschäftigung ernährt zuhause unzählige Familien.
Wer kann, versucht ein Visum für das Studium in den USA oder Australien zu ergattern. Es findet ein «Brain Drain» statt, der den ohnehin schon bestehenden Fachkräftemangel im Land der Himalaya-Gipfel verschlimmert. Schlecht ausgebildete Nepalesen hingegen finden ihre Arbeit hauptsächlich in der Agrarwirtschaft oder im Tourismus und immer häufiger in der Bekleidungsindustrie.
Härtetest für junge Republik
Die jüngste Erdbebenkatastrophe hat nicht nur den Boden und die Menschen in Nepal erschüttert, sondern auch die zaghafte Demokratie. Das Beben ist ein Härtetest für den jungen Staat mit der alten Geschichte. Wie es mit Nepal weitergeht, wird sich erst über die kommenden Wochen, Monate und Jahre weisen müssen.