Die Menschenrechtsanwältin Cruz Silva begrüsst den 21-jährigen Studenten Esteban. Wir befinden uns auf dem Campus der Universität San Marcos. Diese Uni ist die älteste staatliche Hochschule Südamerikas und ein Zentrum der politischen Linken. Anfang 2023 kam es hier zu einer gewaltsamen Polizeiaktion, mitten in Lima.
«San Marcos ist seit eh und je ein Zufluchtsort für politische Dissidenten. Dass Demonstrierende auf dem Campus der Uni wohnen, hat hier Tradition. Als wir Studenten sahen, dass Menschen aus Perus Süden nach Lima kommen, um zu protestieren, war uns klar, dass sie einen Ort zum Übernachten brauchen. Also baten wir die Hochschulleitung um Erlaubnis, dafür den Uni-Campus benutzen zu dürfen. Die Rektorin lehnte ab», erinnert sich Esteban.
«Wir Studenten liessen die Demonstranten trotzdem hinein. Es gab keinerlei Unterstützung. Wir organisierten Matratzen, sammelten Essen, kochten für die Demonstranten – es waren auch Mütter mit Kindern darunter.»
Demonstrieren bedeutet: Kein Einkommen haben
Fast 80 Prozent der Peruanerinnen und Peruaner arbeiten in der Schattenwirtschaft, ohne Vertrag, ohne bezahlte Krankentage oder Ferien. Demonstrieren bedeutet daher tagelang kein Einkommen, kaum Essen.
Hinter den Mauern hörten wir Frauen schreien. Es war schrecklich.
Am 20. Januar 2023 drang die Polizei auf den Campus ein. «Ich kam sofort her, als die Räumung begann. Das Rektorat sprach von Hausfriedensbruch – das war es nicht, die Demonstranten hielten sich nur draussen auf, die Uni-Gebäude betraten sie nicht. Aber der Vorwurf gab der Polizei einen Grund, durchzugreifen», sagt Menschenrechtsanwältin Cruz Silva.
«Die Polizei liess uns Anwälte nicht passieren, aber hinter den Campusmauern hörten wir Frauen schreien. Es war schrecklich.» Drinnen, auf dem Campus, wird Esteban von der Polizei geschlagen, und zwar so lange, bis er nicht mehr gehen kann.
Der 21-Jährige hinkt bis heute. Er erzählt, wie die Polizei Studentenwohnungen ohne richterliche Erlaubnis durchsucht hat: «Fürs Studium mussten wir Bücher kaufen von Marx, Kant, Nietzsche oder Hobbes. Natürlich haben wir die in unseren Zimmern, um zu lernen. Als die Polizisten diese Bücher fanden, sagten sie: ‹Diese Studenten sind Terroristen›.» Estebans Studienkollegen werden in Bussen vom Campus ins Gefängnis gefahren. Er selber versteckt sich in einem Ambulanzwagen vor der Polizei.
Klage am Internationalen Strafgerichtshof
«Videos von der Räumung zeigen, dass hier Grundrechte verletzt wurden. Auf einem Film siehst du Senioren, Frauen und Kinder, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Ein anderes Video zeigt, wie eine Polizistin eine Frau misshandelt», sagt Anwältin Cruz Silva.
Insgesamt starben 67 Menschen bei der Protestwelle gegen Boluarte vor einem Jahr, die meisten davon indigene Männer. Peruanische Anwälte reichten gegen die Präsidentin am Internationalen Strafgerichtshof Klage wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein.
«Auch wir Anwälte wurden von der Polizei geschlagen. Ich konnte zwei Monate nicht arbeiten, und meinen Klienten nicht beistehen. Wir sind nicht die Ukraine oder Gaza, aber unser demokratisches System ist unter Druck», sagt Anwältin Cruz Silva zum Schluss. Druck müsse jetzt auch die internationale Gemeinschaft auf die peruanische Regierung ausüben, damit diese die Menschenrechte einhalte.