«Putin hat kein Konzept für die Modernisierung Russlands», sagt der vielfach ausgezeichnete Osteuropa-Historiker Karl Schlögel im «Tagesgespräch» von Radio SRF. Russland sei ein «schwer geschlagenes, riesiges, fragmentiertes und erschöpftes Land», das eigentlich ein grosses Reformprogramm und einen grossen Reformgestalter brauche.
Russland brauche «Aufgaben, auf die die ganze Nation ihre Intelligenz und ihre Triebkraft konzentrieren kann», so Schlögel. Doch ein solches Reformprogramm fehle völlig.
Öl- und Gas-Einnahmen verprasst
In den 15 Jahren unter Putin sei durch Öl und Gas zwar viel Geld ins Land gekommen, die marode Infrastruktur sei aber nicht ausgebaut worden. «Davor hat er kapituliert», so Schlögel. Zwar habe Putin mit dem Geld dazu beigetragen, dass es im Land nun eine Mittelklasse gebe, die sich viel leisten könne. «Aber das Land selbst ist in einem unsagbaren Zustand.»
Deshalb: «Es ist für Putin leichter, äusserst erfolgreich einen kleinen Krieg anzuzetteln und so die Zustimmung des Volkes zu erhalten, als das Land mit den grossen Aufgaben zu konfrontieren.» Putin spreche gegenüber den Russen die Traumatisierungen an, welche das Land nach dem Ende der Sowjetunion erleben musste und er stelle sich als jemand dar, der dem Feind die Stirn bietet. «Er braucht einen Feind», sagt Schlögel, um das fragmentierte Land zu einen. Und der erklärte Feind sei der Westen, insbesondere die USA.
Hunderttausende Russen verlassen das Land
Das Ergebnis dieser Politik Putins sei verheerend: In den letzten zehn Jahren hätten mindestens 1,5 Millionen Russen das Land verlassen, meist gut ausgebildete Menschen. «Es gibt in Russland derart viele intelligente, initiative Leute, die etwas machen möchten – aber sie kommen nicht zum Zug», analysiert Schlögel. Grund sei die überall vorhandene Korruption, die Veränderungen verhindere. Die Russen im Ausland seien meist unternehmerisch tätig, in einer Weise, wie sie das in Russland nicht konnten. «Das ist das Versagen des Reformers Putin», sagt Schlögel.
Zwar gebe es auch in Russland Nischen, in denen sehr intelligente und hoch analytische Beiträge publiziert würden. Doch dies alles finde im Rahmen einer «generell kontrollierten Öffentlichkeit» statt. Solange sich die Verfasser dieser Publikationen aus der Politik heraushielten, dürften sie tun und lassen, was sie wollen. «Das scheint die Botschaft des Systems Putin zu sein.» Diese Politik habe Russland in die Sackgasse geführt.
Putins Flucht nach vorn
Ähnliches konstatiert Schlögel im Ukraine-Konflikt. Das «Novorossiya»-Projekt Putins sei «in gewisser Weise gescheitert». Die Pläne hätten vor allem deshalb nicht funktioniert, weil sich die Ukraine gewehrt und es Kiew geschafft habe, innert kurzer Zeit eine Armee aufzubauen. Nach dem Scheitern von «Novorossiya» gehe es nun möglicherweise um «Novosyria»: Putins «Flucht nach vorn» gehe weiter. «Es geht Putin um die Produktion von Konflikten, bei denen er dann gebraucht wird», so der Historiker.
Im Falle Syriens könne er sich auch vorstellen, dass der russische Präsident Machthaber Baschar al-Assad eines Tages preisgebe. Putin gehe es in Syrien wie in der Ukraine darum, einen eingefrorenen Konflikt zu erzeugen, den er anfeuere oder zurückfahre, je nachdem was ihm sinnvoller erscheine. So könne Putin «die ganze Ohnmacht der westlichen Politik und jener der USA blosslegen.»