Wie fühlt man sich, wenn man einem Mann gegenübersteht, der 18 Jahre lang unschuldig in der Todeszelle sass? Was entgegnet man, wenn dieser Mann mit ruhiger Stimme sagt, dass der Staat Texas ihn umbringen wollte, dass ihm die Staatsdiener nahmen, was sie konnten, nur eines nicht: «Meine Würde, meine Seele, meinen Geist.»
Der Mann heisst Anthony Graves, ist schwarz, und seine Geschichte klingt unglaublich. Ein Einzelfall aber ist sie nicht im US-Justizsystem, dies zeigen Recherchen der «Rundschau»: Hintergrund ist ein grausamer Mord an drei Kindern, einem Teenager und einer Grossmutter, die im Jahr 1992 schlafend in ihrem Haus erschlagen und erschossen wurden. Der Mörder, ein Mann namens Robert Carter, war schnell ausgemacht.
Staatsanwälte bangen um ihre Wiederwahl
Weil der Staatsanwalt aber in festem Glauben war, dass er die Tat nicht alleine hätte ausführen können, setzte er Carter unter Druck, einen Komplizen zu nennen. Und Carter nannte aufs Geratewohl einen entfernten Verwandten: Anthony Graves.
Zwar widerrief Carter die Anschuldigung noch im Vorfeld der Gerichtsverhandlung. Der Staatsanwalt aber verschwieg diese Information sowohl der Verteidigung wie auch den Geschworenen. Sie verurteilten Anthony Graves zum Tod.
Es seien ihm einige solche Fälle bekannt, sagt der auf Todesstrafe-Fälle spezialisierte Rechtsanwalt Mike Kimerer: «Staatsanwälte verstecken Beweismaterial, weil sie sonst den Fall nicht gewinnen». Und davon hänge ihre Wiederwahl ab.
Finanziell arm und schwarz: Doppelt benachteiligt
Anthony Graves, ein vermögensloser Mechaniker, hatte einen unerfahrenen Pflichtverteidiger an seiner Seite. Er sagt, unter den zwölf Geschworenen habe nur ein Schwarzer gesessen. Graves zur «Rundschau»: «Die Leute haben mich aufgrund eines Gefühls verurteilt, Beweise hatten sie nicht».
Auch Mörder Robert Carter wurde zum Tod verurteilt und sagte noch kurz vor seiner Exekution im Jahr 2000, Anthony sei unschuldig. Dennoch sollte es zehn weitere Jahre dauern, bis das Bundesgericht das Fehlurteil bemerkte und die Freilassung des Todeshäftlings anordnete. Die vorhergegangenen Rekurs-Instanzen hatten den Fall nicht mehr inhaltlich beurteilt.
Aussergerichtliche Deals stellen Gerechtigkeit in Frage
Auch im Fall des zum Tod Verurteilten Patrick Bearup in Arizona wirft das eigenmächtige Verhalten des Staatsanwalts Fragen auf: Obwohl bewiesen ist, dass Bearup ein Opfer schwer verletzt, aber nicht getötet hat, standen die zwei tatsächlichen Mörder gar nie vor Gericht.
Der Staatsanwalt hatte ihnen vorab aussergerichtliche Einigungen angeboten. Im Austausch für Informationen kamen sie mit langjährigen Gefängnisstrafen davon. Es liegt im Ermessen des Staatsanwalts, wem er einen Deal anbieten will – Patrick Bearup bekam keinen. Vor Gericht verurteilten ihn die Geschworenen zum Tod.
In der «Rundschau» übt Rechtsanwalt Mike Kimerer scharfe Kritik am System: «Die Staatsanwälte haben zu viel Macht.» Durch die aussergerichtlichen Deals hätten die Ankläger in mancherlei Hinsicht die Position von Richtern eingenommen. Die Frage der «Rundschau», warum nicht die Mörder mit der Todesstrafe bestraft worden waren, liess eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft von Phoenix unbeantwortet.
«Wer des Mordes angeklagt wird, gilt als schuldig»
Im Ausläufer des Bibelgürtels Texas befürworten 70 Prozent die Todesstrafe. Rechtsanwalt Mike Kimerer sagt, bei Mordfällen seien die Gemüter so erhitzt, dass man nicht mehr von der Unschuld des Angeklagten ausgehe: «Wer angeklagt wird, gilt bereits als schuldig».
Die Mentalität sei klar Auge um Auge, sagt die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft Houston. Viele Bürger würden nicht verstehen, warum es den Todestrakt überhaupt gibt. Sara Marie Kinney zur «Rundschau»: «Diese Leute sagen, wer wegen Mord verurteilt ist, sollte am nächsten Baum gehängt werden.»
Dass jeder Todeshäftling die Steuerzahlenden 2 Millionen Dollar kostet und damit vier Mal mehr als lebenslange Haft aufgrund der vielen Rekursinstanzen, ist für Kinney kein Argument. Auch nicht, dass die Todesstrafe laut Studien keine abschreckende Wirkung hat. Es gehe um die Gerechtigkeit, sagt sie.
Unschuldig hinter Gittern: Der Preis eines fehlerhaften Systems
Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 sind 1343 Menschen in den USA exekutiert worden. Dagegen steht die Zahl der Todesurteile, die später aufgehoben wurden: 142 zum Tod Verurteilte sassen zu Unrecht im Hinrichtungs-Trakt, teilweise jahrzehntelang. Gemessen an der Zahl der Hingerichteten ist also jeder 10. Todeshäftling unschuldig. Einige Bundesstaaten wie Illinois haben darum beschlossen, die Todesstrafe abzuschaffen.
In den Augen von Pressesprecherin Kinney stellt die Fehlerquote das System aber nicht in Frage: «Es beweist vielmehr, dass die Rekursinstanzen funktionieren». Wie viele Todeshäftlinge unschuldig exekutiert wurden, weiss niemand.
Und den Preis fürs fehlerhafte System zahlen unschuldige Todeshäftlinge, die oftmals zehn bis zwanzig Jahre ihres Lebens verlieren. Anthony Graves hat rund 1 Million Wiedergutmachung vom Staat Texas bekommen. Offiziell entschuldigt aber hat sich niemand. Das schlimme sei, dass seine Geschichte die Öffentlichkeit in Texas nicht interessiere.