In Istanbul und Ankara hat sich die Lage in der Nacht zum Samstag nach einem gewaltsamen Polizeieinsatz gegen Demonstranten beruhigt. Polizisten blieben jedoch auf ihren Posten.
Verletzte und Festnahmen
Die Demonstranten hatten sich um den zentralen Taksim-Platz versammelt und riefen Parolen wie «Regierung tritt zurück» und «Korruption ist überall». Sie forderten auch den Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Dieser war wegen Korruptionsvorwürfen in Misskredit geraten.
«Je konkreter die Vorwürfe werden und je näher sie an seine Familie kommen, desto aggressiver reagiert Erdogan», sagt SRF-Korrespondent Werner van Gent. Die Gelassenheit und die Selbstsicherheit, die er früher ausgestrahlt habe, habe er verloren.
Dafür spricht unter anderem die Härte der Polizei. Sie setzte Wasserwerfer, Gummigeschosse und Tränengas gegen die Regierungsgegner ein. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gab es mehr als 30 Festnahmen.
Man werde den Eindruck nicht los, dass Erdogan sich grosse Sorgen mache, so van Gent. «Und ich glaube, aufgrund der Vorwürfe hat er auch allen Grund sich Sorgen zu machen.»
Pro-Erdogan-Demo
Während die Polizei Erdogan-Gegner an Protesten direkt auf dem symbolträchtigen Taksim-Platz zu hindern versuchte, kamen an dem rund 20 Kilometer entfernt gelegenen Flughafen von Istanbul Tausende Anhänger des Regierungschefs zusammen.
Sie schwenkten Fahnen seiner Partei AKP und der Türkei, als Erdogan von einer Reise aus einer als AKP-Hochburg geltenden Provinz zurückkehrte. Dort hatte er seine Anhänger aufgefordert, bei den 2014 anstehenden Kommunalwahlen mit ihrer Stimme für Erdogan ein Zeichen zu setzen – gegen die nach seinen Worten aus dem Ausland gesteuerte Verschwörung gegen ihn.
Kurz vor Bekanntwerden des Korruptionsskandals hatte der einstige Fussball-Star Hakan Sükür die Partei verlassen. Die absolute Mehrheit der AKP im Parlament gefährden die Austritte nicht.
Erdogan galt als Synonym für Stabilität
Wesentlich ernster hingegen muss Erdogan die Entwicklung der Wirtschaft nehmen. Sie reagiere sehr nervös, so SRF-Korrespondent van Gent. «Die Währung hat 20 Prozent verloren und die Börse war zeitweise im freien Fall.»
Das Verrückte sei, dass Erdogan in den letzten zehn Jahren quasi als Synonym für Wachstum und wirtschaftliche Stabilität gehandelt wurde. Doch nun bekomme man den Eindruck, dass Erdogan dabei sei, das eigene Erbe zu vernichten, resümiert van Gent.
Kritik am Vorgehen Erdogans kommt mittlerweile auch aus der EU. Der für die Beitrittsverhandlungen mit Ankara
zuständigen tschechische EU-Kommissar Stefan Füle forderte eine rasche Aufklärung aller Vorwürfe gegen den Premier.
Regierungschef ist angeschlagen
Die türkische Regierung wird nach den Massenprotesten im Sommer seit einigen Tagen von einem Korruptionsskandal erschüttert. Von einer ersten Verhaftungswelle vor anderthalb Wochen waren dutzende Geschäftsleute und Politiker aus Erdogans Entourage betroffen. Drei Minister traten zurück.
Der Konflikt hat sich auch zu einer Machtprobe zwischen der Regierung und dem Justizapparat ausgeweitet. Die Autorität des seit 2002 amtierenden Erdogan ist vier Monate vor den Kommunalwahlen angeschlagen.