In Tunesien begannen die als «Arabischer Frühling» bezeichneten Aufstände gegen die Machthaber im Nahen Osten. Hier nahmen sie ihren Lauf mit der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers im Protest gegen Polizeiwillkür. Doch die damalige Hoffnung schlug in vielen Staaten in Chaos und Gewalt um.
Tunesien gilt aber als Musterbeispiel für einen gelungenen Umbruch: Vier Jahre nach der tunesischen «Jasminrevolution» und dem Sturz von Diktator Ben Ali hat das nordafrikanische Land am Mittelmeer eine neue Verfassung und ein neues Parlament – und erhält nun auch erstmals einen demokratisch gewählten Präsidenten.
Trotz des vollzogenem Umbruch scheint die Wahl auf geringes Interesse zu stossen. Laut der Wahlkommission liegt die Wahlbeteiligung bei 53 Prozent – vor allem viele junge Leute blieben der Wahl fern.
Nach ersten Prognosen des Fernsehsender Tunisia 1 liegt Ex-Ministerpräsident Béji Caïd Essebsi in Führung. Übergangsstaatschef Moncef Marzouki kommt auf knapp 27 Prozent der Stimmen. Erreicht keiner der Kandidaten das absolute Mehr, kommt es am 28 Dezember zu einer Stichwahl.
Präsidentschaftswahl ist wichtige Etappe
Die Präsidentschaftswahl sei eine wichtige Etappe in der sehr abwechslungsreichen Revolutionsgeschichte, sagt Tunesien-Experte Daniel Voll von der SRF-Auslandredaktion. In den vier Jahren seither erlebte Tunesien viele Krisen: zwei politische Morde, islamistischen Terror, grosse Demonstrationen und eine lange Regierungskrise. Doch im Vergleich zu anderen Staaten der Region sei die Revolution nicht gescheitert, denn «in Tunesien ist die Entwicklung in Schüben passiert.»
Nach der Revolution hätten sich relativ schnell Institutionen gebildet, es habe eine Übergangsregierung gegeben, so Voll. Die islamische «Ennahda»-Partei gewann die Parlamentswahlen. Dass sie aber versucht habe, die Fäden stark in die Hand zu nehmen, habe die Bevölkerung nicht goutiert.
Land mit «moderner Verfassung»
Nach einer Zeit grosser Spannungen habe sich die «Ennahda» mit den säkularen Parteien geeinigt, zusammen einen friedlichen Weg hin zu einer neuen Verfassung zu finden. «Es ist tatsächlich eine sehr moderne, fortschrittliche Verfassung», erklärt er.
Die Situation in Tunesien unterscheidet sich markant von anderen arabischen Staaten. Die Leute im Land würden teilweise harsch reagieren, wenn man vom Arabischen Frühling in Tunesien spreche, so Voll: «Sie reden stolz von der ‹tunesischen Revolution›.» Sie wollten nicht mit anderen Ländern, in denen die Lage katastrophal ist, genannt werden. Die Voraussetzungen für die tunesische Jasminrevolution seien sehr anders gewesen: «Es gab keine Armee wie in Ägypten, die immer die Fäden gezogen hat».
Gewerkschaften und Menschenrechtler als Garanten
Ein wichtiger Punkt sei auch, dass in Tunesien die Zivilgesellschaft immer sehr aktiv gewesen sei: Gewerkschaften, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen. «Ohne diese bestehenden zivilen Gruppierungen wäre diese Revolution innerhalb von vier Jahren nicht so auf den Weg gekommen, wie das nun passiert ist», zeigt sich der Experte überzeugt.
Wenn heute der neue Präsident gewählt wird, gilt der 87-jährige Beji Caid El-Sebsi als Favorit. Doch kann ein Mann in diesem Alter überhaupt für den heutigen Wandel stehen? «Ich denke nicht, dass El-Sebsi für den Wandel steht, sondern eher für die Kontinuität, für den Übergang», glaubt der SRF-Auslandsredaktor.
Alter Präsident wird Junge gewinnen müssen
An Erfahrung fehlt es El-Sebsi nicht: Der ehemalige tunesische Übergangs-Premierminister war engster Mitarbeiter des Staatsgründers Habib Bourguiba und fungierte auch schon als Botschafter des Landes. Zudem gründete er 2012 die säkulare Partei «Nidaa Tounes» als Opposition gegen die «Ennahda». «Nun wird er versuchen, den Übergang in eine weitere friedliche Entwicklung zu machen», so Voll.
Wird El-Sebsi tatsächlich gewählt, kommen einige Herausforderungen auf den 87-Jährigen zu. Die vor der Revolution bereits herrschend Wirtschaftskrise zu meistern, ist eine davon. Vor allem aber müsse er die Jungen – insbesondere die gut ausgebildeten – wieder gewinnen, schätzt Voll. Diese hätten sich aus Enttäuschung und aufgrund der hohen Jugendarbeitslosigkeit von der Politik abgewendet. Obschon es die Jungen waren, welche 2011 die Revolution angestossen hatten.