Erst vier Jahre ist es her: Da war Aleppo Syriens Wirtschaftsmetropole und ein Handelszentrum. Sogar ein Touristenmagnet. Gegen drei Millionen Menschen lebten in der Stadt und ihren Vororten. Strategisch günstig gelegen war die Stadt, eine er ältesten der Welt, die schon 2000 Jahre vor Christus urkundlich erwähnt ist. Sie hat einen der grössten überdachten Märkte der Welt: mehr als dreizehn Kilometer Souks.
Aleppo war ein Knotenpunkt des Handels zwischen Europa, dem Nahen Osten und Indien. Günstig platziert zwischen dem Mittelmeer und den grossen Flüssen Euphrat und Tigris. Bahnlinien verbanden die Stadt mit Istanbul, Bagdad und Damaskus. Eine kosmopolitische Stadt war Aleppo ausserdem. Neben Arabern lebten hier Kurden und Turkmenen. Knapp zwanzig Prozent der Bevölkerung waren Christen.
Mittlerweile erinnert fast nichts mehr an die Blüte der Stadt – vier Jahre, nachdem die Kämpfe des syrischen Bürgerkriegs auch Aleppo erfasst haben. Die wichtigste Stadt im Norden Syrien ist heute belagert, gewalterschüttert. In vielen Teilen eine Trümmerwüste. Ein Grossteil der Bevölkerung ist geflüchtet. Jene, die zurückblieben, leiden Not.
Drei Stimmen zu Aleppo:
1. Der UNO-Nothilfechef
Am Mittwochabend vor dem UNO-Sicherheitsrat lancierte Stephen O’Brien, bei der UNO zuständig für humanitäre Hilfe, einen dramatischen Appell:
«In Syriens zweitgrösster Stadt wüten permanent Kämpfe. Die Menschen leben in dauernder Angst. Wir müssen uns schwere Sorgen machen um ihre Sicherheit, um ihre Gesundheit und um ihren Schutz, ja um ihr Überleben. Die Angriffe auf Krankenhäuser dauern unvermindert an und verhindern so die medizinische Versorgung der Menschen.
Luft- und Raketenangriffe haben auch die Strom- und Wasserversorgung schwer beschädigt. Zwei Millionen Menschen im Grossraum Aleppo leben zurzeit ohne Elektrizität und ohne Zugang zu Trinkwasser. Vor allem Kinder leiden in der Sommerhitze. Lebensmittel und Medikamente sind knapp. Um die Lage zu verbessern, bräuchte es zwingend eine Waffenruhe. Es bräuchte ungehinderten Zugang für humanitäre Helfer und für Hilfsgüter. Und zwar sofort.»
2. Der Reisende
Grösser könnte der Gegensatz nicht sein zu dem, was man vor wenigen Jahren im Reise-Blog «Follow the Shadow» über das prächtige, lebendige, vielfältige Aleppo lesen konnte:
«Ein Taxi bringt mich in die Altstadt. Ich steige einfach irgendwo aus. Es ist ein traumhafter Tag. Der Himmel leuchtet im schönsten Blau, die Sonne heizt die Strassen schon am frühen Morgen auf. Begrüsst werde ich von kleinen, gelben Taxis, die den Uhrturm umrunden. Das erste Ziel des Tages ist das Nationalmuseum. Von dort gelange ich zum «Hotel Baron».
Ein Blick in die Lobby wirft mich um fast hundert Jahre zurück. 1911 eröffnet, war es das erste Hotel in der Region und beherbergte berühmte Gäste wie Lawrence von Arabien und König Faisal, der die syrische Unabhängigkeit vom Balkon aus verkündete.
Mein nächstes Ziel ist die Zitadelle. Hoch über der Stadt thront sie in mächtiger Imposanz. Umgeben von einem Graben ragen die Aussenmauern in den Himmel. Entdeckungstour der vielen kleinen Ruinen in der Zitadelle. Ich laufe einmal auf der Aussenmauer um die Festung.
Unten liegt die Altstadt. Der Al-Madina-Souk mit seinen ersten Teilen aus dem 15. Jahrhundert liegt vor mir. Die engen Gassen des grössten überdachten Marktes der Welt lassen sich nur erahnen und verstecken sich unter den Gewölbedecken. Die wertvollen Waren aus Nah und Fern lasse ich mir nicht entgehen und schlendere durch die schummrigen Gassen des Souk.
Die verwinkelten Gassen spucken mich aus bei der Grossen Moschee. Von einem Café gegenüber habe ich einen guten Ausblick auf die Moschee und die dahinterliegende Zitadelle. Die immer tiefer stehende Sonne lässt die Stadt in leichtem Rot erscheinen.»
3. Die Bittstellerin
Zurück in die Gegenwart, ins geschundene Aleppo. Hier hat Farah Alfarhan gelebt und als humanitäre Helferin für vertriebene Kinder gearbeitet. Bis sie vom Assad-Regime verhaftet wurde und später nach Grossbritannien fliehen konnte. Dort richtet sie nun einen verzweifelten Brief an die britische Regierung:
«Ich bin entsetzt, dass die Gewalt und die Verletzung der Menschenrechte in Syrien nicht nur ungebremst andauern, sondern sogar noch zunehmen. Und dass die britische Regierung tatenlos zusieht. Ich kann nicht verstehen, dass der Westen nichts tut, während mein Stadtviertel in Aleppo permanent attackiert wird.
Niemand schützt die Menschen, die ich bei meiner Flucht dort zurückgelassen habe. Allein in der vergangenen Woche gab es Hunderte von Luftschlägen auf Aleppo. Für meine syrischen Freunde ist der Horror zum Alltag geworden. Bombardierungen, Luftschläge, Gewaltattacken sind tägliche Realität. Es ist für sie völlig normal, tote Kinder in den Strassen zu sehen, die nie mehr zu ihren Familien finden werden.
Ich spreche ständig mit Leuten, die ihr Dach über dem Kopf verloren haben. Der Tochter einer Freundin wurde eben von einem Granatsplitter der Schädel zertrümmert, als sie im Garten spielte. Manche Freunde übernachten in Moscheen, in Zelten, unter Büschen und versuchen, ihre Kinder zu schützen. Tut endlich etwas!»
Ist in Aleppo die tausendundletzte Nacht angebrochen?