Das Wichtigste in Kürze
- Wenn Ungarn am Sonntag wählt, dann schaut das Land auf eine beispiellose Kampagne zurück: lang, teuer, wuchtig und von der Regierung orchestriert.
- In dem Land hat eine Form von staatlicher Dauerpropaganda Einzug gehalten, wie man sie in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat.
- Wie sie tönt, und was die Opposition ihr entgegensetzen kann, zeigt die Reportage.
Die Masse vor dem Parlament in Budapest schwenkt Schilder. Vorne sind sie rot-weiss-grün, die ungarische Trikolore, hinten steht gross Fidesz – der Name der Regierungspartei. Premier Viktor Orban heisst die Anwesenden auf dem Fest der ungarischen Freiheit willkommen.
Es ist Nationalfeiertag, ein Tag für alle. Doch Orban teilt die Bevölkerung in Gute und Böse ein, etwa wenn er von den politischen Gegnern spricht. «Sie argumentieren nicht, sondern zensieren. Sie fechten nicht, sondern zwicken, treten, beissen und verstreuen den Samen des Hasses. Nach den Wahlen werden wir moralische, politische und juristische Vergeltung üben.»
Der Handlanger der Bösen
Der eigentliche Gegner aber sei ein mächtiges Imperium, ein internationales Netzwerk, an dessen Spitze George Soros stehe, so Orban weiter. Soros, ein Milliardär, der NGOs unterstützt und eine offene, liberale Gesellschaft fördert. Dessen wahres Ziel sei ein anderes, sagt Orban.
Soros wolle den Einwanderern im Weg stehende Ungarn brechen und zuerst Tausende, dann Hunderttausende in dem Land ansiedeln. «Wenn wir das zulassen, werden sich in zwei Jahrzehnten Millionen Menschen von Afrika und dem Nahen Osten nach Europa auf den Weg machen. Man will uns unser Land wegnehmen.»
Die Bösen schlechthin
Die EU stehe auf der falschen Seite, sagt Orban. «Brüssel schützt Europa nicht. Es will die Bevölkerung Europas verdünnen, sie austauschen. Brüssel wirft unsere Kultur, unsere Lebensform den internationalen Kräften vor die Füsse.» All dies wollten internationale Mächte Ungarn aufzwingen – mithilfe ihrer Handlager im Land selber.
Brüssel schützt Europa nicht. Es will die Bevölkerung Europas verdünnen, sie austauschen.
Kein anderer Regierungschef in der EU schlägt solche Töne an. Doch Orban bringt nur auf den Punkt, was seine Regierung und seine Partei seit vielen Monaten konsequent verbreiten. Sie hetzen auf Plakaten gegen Soros und die EU. Die Regierung hat manipulative Fragebögen an alle Haushalte verschickt. «Ja oder Nein: Sollen kriminelle Migranten milder bestraft werden?», steht da zum Beispiel. Gegner sehen darin Wahlpropaganda mit Steuergeldern.
Auf jeden Fall hat die Regierung mit ihrer massiven Kampagne Debatten über andere Probleme verdrängt. Über Bildung, Gesundheit oder Auswanderung wird kaum diskutiert. Für Oppositionspolitiker ist das ein Problem.
Der konstruierte Feind
«Fidesz hat mit der Anti-Einwanderungskampagne so viel Hass gesät, dass manche Rentnerinnen nur noch in Gruppen einkaufen gehen. Sie haben Angst vor den Migranten, die sie nie gesehen haben», sagt Judit Földi Raczné, die in der Stadt Szekesfehervar für die linksliberale Demokratische Koalition kandidiert. Die Regierungspartei habe einen Feind konstruiert, vor dem nur sie das Land schützen könne.
Manche Rentnerinnen gehen nur noch in Gruppen einkaufen. Sie haben Angst vor den Migranten, die sie nie gesehen haben.
«Es ist auch nicht normal, dass die Regionalzeitung fast ausschliesslich über Einwanderung berichtet.» Doch das Blatt gehört, wie fast alle regionalen Medien, einem Freund Orbans.
Für Gegenkampagnen fehlt es den Oppositionsparteien an Geld. Was bleibt, ist der direkte Kontakt mit Wählern. «Wir gehen zu den Leuten. Ich habe in den letzten Wochen an 3000 Türen geklingelt und den Leuten erklärt, dass sie Lügen lesen und warum sie im Spital drei Monate auf einen Ultraschall warten müssen», sagt Raczné. Das interessiere die Leute.
«Die Wähler sehen, dass die Regierung die Demokratie zerstört. Sie hat die Hasskampagne übertrieben.» Propaganda überzeuge nicht, hofft die Oppositionspolitikerin. Doch das dominierende Thema hat die Regierung mit ihrer Kampagne gesetzt. Ob das allein nicht schon für einen grossen Sieg reicht, wird sich am Sonntag zeigen.