Was passiert mit den Flüchtlingen, nachdem sie in Italien angekommen sind?
Die Flüchtlinge werden je nach Ankunftsort in Erstempfangslager auf Sizilien oder im Rest Süditaliens untergebracht. Dort findet eine Grobaufteilung statt. Wer schon mal ausgewiesen wurde oder gar in den Strafregistern erwähnt wird, kommt gleich in ein Identifizierungs- und Ausweisezentrum. Die Migranten aus dem Maghreb werden als Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet, und sind damit theoretisch ausweisbar. Daher kommen sie in die Ausweisungszentren. Der Rest wird in den normalen Flüchtlingsaufnahme-Zentren, die über ganz Italien verstreut sind, untergebracht. Sie erholen sich von den Strapazen der Reise, und werden medizinisch versorgt. Diese Lager sind halb offen.
Sind die Lager nicht kontrolliert und gesichert?
Es gibt eine oberflächliche Kontrolle. Die Polizei greift nur ein, wenn es zu Spannungen zwischen Flüchtlingsgruppen kommt. Offiziell heisst es in Italien, man bemühe sich, die Flüchtlinge zu identifizieren. Doch viele – vor allem Afrikaner – haben ihre Papiere verloren oder weggeworfen. Daher entlassen die Behörden die Flüchtlinge aus den Zentren, die überdies viel zu wenig Plätze haben.
Entlassen werden auch jene, die sagen, sie wollten um Asyl nachsuchen, irgendwo in Europa, aber nicht in Italien. Das kommt den italienischen Behörden zupass, denn Italien will ein Durchgangsland sein. Um den Schengen-Dublin-Vertrag kümmern sich die Behörden kaum. Der Vertrag würde zwingend die Identifizierung im Erstankunftsland erfordern.
Was passiert mit jenen, die untertauchen?
Einige reisen weiter, einige arbeiten schwarz, etwa in der italienischen Landwirtschaft, in Hotels und Restaurants, als Reinigungskräfte oder in Fabriken. Ein Teil der Migranten ist auch in der Prostitution und im Drogenhandel tätig.
Wer ist bereit, die Migranten schwarz zu beschäftigen?
Viele. Es können Kleinunternehmer sein, die sich dank Schwarzarbeit im Hochsteuerland Italien gerade noch über Wasser halten. Oder Grossunternehmer, die einen Teil ihrer Arbeitskräfte nicht beim Fiskus deklarieren. Es gibt auch jene Skrupellosen, die nicht nur den Staat, sondern die Flüchtlinge selbst ausnehmen wollen. In Mafia-Gegenden Süditaliens werden Migranten mit Hungerlöhnen in der Landwirtschaft beschäftigt. Wer 20 Euro am Tag erhält, kann sich glücklich schätzen. Viele wohnen in Holzverschlägen, in Slums. Da sie keine Rechte haben, sind ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert, werden häufig wie Sklaven behandelt.
Wie viele von den Ankömmlingen werden von Italien zurückgewiesen?
Sehr wenige. Nur eine verschwindende Minderheit der Migranten erhält einen Ausweisungsbescheid. Die Ausschaffung findet dann aber meist nur auf dem Papier statt, weil Italien nicht das Geld und die Mittel hat, um das Urteil durchzusetzen.
Freilich, die Krise hat dazu geführt, dass Ausländer vereinzelt wieder nach Hause gehen. Marokkaner in Turin erzählten mir, sie würden in ihr Land zurückkehren und zeigten mir das Flugbillett, weil es in Italien immer schwieriger werde, Arbeit zu finden. Schwarzafrikaner können es sich allerdings meistens nicht erlauben, ohne Geld und Kleider wieder nach Hause zu gehen. Sie würden in ihren Gesellschaften und Familien ihr Gesicht verlieren und als Verlierer marginalisiert.
Hat Italien keine Rücknahmeabkommen mit anderen Ländern?
Einige nordafrikanische Staaten haben mit Italien Abkommen unterzeichnet, dazu gehören Algerien, Tunesien, Marokko, Ägypten. Diese Abkommen taugen aber in der Praxis nicht viel. Die maghrebinischen Staaten nahmen bis vor kurzem nur 2 bis 5 Personen pro Tag zurück, um die Rückschaffungskosten in die Höhe zu treiben. Ägypten ist grosszügiger. Als Rückschaffungsland fehlt mittlerweile Libyen. In den letzten Jahren der Regierung Berlusconi nahm Libyen Tausende von Migranten und Flüchtlinge zurück, und blockierte gleichzeitig die Ausreise von Schwarzafrikanern. Allerdings herrschten in den Rückweisungs- und Ausschaffungszentren Libyens konzentrationslagerähnliche Zustände.
Wie viele Flüchtlinge gibt es schätzungsweise in Italien?
Als ich im letzten Jahr in Turin mit dem für die Aufnahmezentren zuständigen Staatsanwalt in Turin sprach, sagte er mir, das wisse man nicht, aber die Caritas spreche von einer Million. Ich fragte den Staatsanwalt zurück, ob es auch doppelt so viele sein könnten. Er sagte, das sei nicht auszuschliessen.
Sie erwähnten jene, die weiterreisen.
Wenn die Migranten weiterreisen wollen, zahlen ihnen die italienischen Behörden vorübergehend die Unterkunftskosten, sie geben ihnen das Reisegeld, um an die Grenze zu gelangen, und ein für drei Monate befristetes Ausreisevisum für die EU, sowie den Mindestbetrag für die ersten Tage im Ausland. In Frankreich werden die Migranten aber häufig von der Polizei wieder nach Italien überwiesen, falls sie im Grenzbereich geschnappt werden. Dies trotz der Tatsache, dass mittlerweile das befristete Besuchsvisum von der EU akzeptiert ist.
Welches sind neben Frankreich ebenfalls beliebte Einreiseländer?
Deutschland und die skandinavischen Staaten, aber auch die Schweiz sind hoch im Kurs, weil diese Länder berechenbarer sind, bessere Sozial- und Integrationskonzepte haben, das Leben als leichter erscheint. Ausserdem haben viele Migranten dort schon Verwandte oder Freunde.
Ihr Fazit?
Die Migranten wollen in Europa bleiben. Das Instrumentarium, um jene zurückzuweisen, die bloss Wirtschaftsflüchtlinge sind, ist löchrig. Die EU-Länder und Gesamteuropa waren bisher nicht imstande und nicht willens, allgemeingültige und funktionsfähige Regeln zu definieren. Die Regierungen schauen weg, weigern sich, die Folgen der grossen Migration offen zu diskutieren.
Das Interview führte Christa Gall