Kanzlerin Angela Merkel, Premier Theresa May, (womöglich) Präsidentin Hillary Clinton. Die Liste der westlichen politischen Elite wäre zu erweitern – etwa um IWF-Chefin Christine Lagarde und US-Justizministerin Loretta Lynch – und lässt keinen Zweifel daran offen: Die abendländische Politik liegt künftig in Frauenhand.
Kommt nun nach Finanz- und Flüchtlingskrisen, extremen Rechtsrutschen und institutionellen Verfallserscheinungen dank femininer Finessen wieder alles ins Lot? Oder meint Verweiblichung stattdessen Verweichlichung, und der Westen strauchelt erst recht? SRF News hat mit Experten gesprochen.
Ernten, was Frauenbewegungen gesät haben
Die Tatsache an sich, dass Frauen in der westlichen Wirtschaft und Politik nun Spitzenpositionen besetzen, will Lutz Jäncke, Neurowissenschafter an der Universität Zürich, nicht als «Zeitenwende» erfassen: «Die Frauen verfügen heutzutage zumindest in unserem Kulturkreis einfach über bessere Ausbildungen und viel mehr berufliche Erfahrungen, so dass die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass auch Frauen wichtige Ämter bekleiden.»
Frauen können genau so aggressiv, ja härter sein als Männer.
Laut Birgit Sauer, Politikwissenschafterin mit Schwerpunkt Governance und Geschlecht an der Universität Wien, hat auch «ein langer Kampf von Frauenbewegungen und Politikerinnen» gezeigt, dass Frauen «die Aufgaben nicht nur wahrnehmen wollen, sondern auch wahrnehmen können.»
Kaum ein neues «Machtmatriarchat»
Einem «neuen Machtmatriarchat» oder einer «New Femocraty», wie die Zeitung «Welt» die neuen Besetzungen beschlagwortet, können beide Wissenschafter nicht viel abgewinnen. Jäncke: «Ein Matriarchat würde ja unterstellen, dass grundsätzliche und offensichtliche Verhaltensunterschiede zwischen allen Männern und Frauen bestehen würden.» Ihm sei in diesem Zusammenhang aber keine «wissenschaftlich stabile» geschlechtliche Differenz bewusst.
In Konsequenz räumt der Neurowissenschafter mit hartnäckigen Klischees auf: «Es stimmt nicht grundsätzlich, dass Frauen von Natur aus emotionaler, kommunikativer oder weniger aggressiv sind. Sie mögen in den jeweiligen Kulturen gelernt haben, ihre Emotionen anders auszudrücken. Sie können indes genau so aggressiv, ja härter sein als Männer.»
Auch Politikwissenschafterin Sauer bringt Vorbehalte an, wenn es darum geht, eine typisch weibliche Politik zu destillieren: Einige britische Studien legten zwar nahe, dass Frauen einen anderen Politstil pflegten. Doch stünden deren Ergebnisse «auf wackligen Beinen». «Frauen sind wie Männer auch in parteipolitische Rationalitäten eingebunden. Und andere Studien stellen keinen Unterschied fest, der auf das Geschlecht zurückzuführen wäre.»
Projektionen können Politikerinnen auch zugute kommen
Würden politisierende Frauen etwa emotionslos wirken, so stünde laut Sauer vielmehr ein Plan dahinter: «Das tun die Frauen nur, um die Zuschreibung zu entkräften, dass sie sich von Gefühlen leiten lassen. (...) Emotionen würden ihnen als Makel angelastet.»
Das Vorurteil, dass Frauen weniger machtbezogen seien als Männer, könne ambitionierten Politikerinnen auch in die Hände spielen: Aktuell werde das «Bild der Trümmerfrau» auf sie projiziert. Den Brexit-Beschluss als Beispiel vor Augen, führt sie aus: «Wenn etwas schiefgegangen ist, verlangen die Öffentlichkeit und die Parteien nach einer Frau, die aufräumt.»
Jenseits der sozialen Zuschreibungen verneinen beide Wissenschafter, dass etwas typisch Weibliches an Merkels, Mays oder Clintons Verhalten sei. Allenfalls gäbe es etwas «typisch Merkel'sches», so Jäncke, «wobei dieses Merkel-Mässige durch ihren besonderen Erfahrungshintergrund geprägt ist.»
Wenn etwas schief gegangen ist, verlangen die Öffentlichkeit und die Parteien nach einer Frau, die aufräumt.
Erziehung, Glaube, Geld und Renommee
Dieser Meinung ist auch Sauer. Merkel beispielsweise, eine in Brandenburg aufgewachsene Pfarrerstochter, hat «mit einer sprichwörtlich norddeutschen Sturheit das Christliche der CDU bewahrt und dies etwa bei der Flüchtlingskrise eingebracht (wenn auch nicht öffentlich gezeigt).»
Um Clintons Verhalten zu verstehen, wirft Jäncke demgegenüber das wohlhabende Elternhaus, die ausgeprägte Intelligenz und der frühere renommierte und bestens bezahlte Job als Juristin in die Waagschale. Lagarde habe schliesslich in vielen Ländern gelebt, spreche mehrere Sprachen perfekt, und May habe eine klassische Eliteausbildung erfahren. «Diese Frauen», schliesst Jäncke, «sind alle eher danach zu beurteilen, über welchen Erfahrungshorizont sie verfügen und nicht welchen Geschlechts sie sind.»
Typisch weibliche Erfahrungen im Politbetrieb
Der Erfahrungshintergrund ist nun aber laut Politikwissenschafterin Sauer nicht (nur) ein individueller, sondern (auch) ein gesellschaftlicher. Als solcher lässt er sich durchaus weiblich oder männlich konnotieren: Die politischen Erfahrungen der meisten Frauen «sind auf der ganzen Ochsentour – der Laufbahn von der Jugendorganisation bis hin zur Regierungspartei – meistens Erfahrungen des Ausschlusses oder der geschlechtlichen Benachteiligung.»
So habe beispielsweise Kanzlerin Merkel «in der Auseinandersetzung mit Männern gelernt, eine Kontroverse auszusitzen und ist dadurch beinhart geworden.»