Bei den Protesten der Opposition gegen die ukrainische Führung hat es am Donnerstag in Kiew ein weiteres Blutbad mit dutzenden Toten gegeben. Die meisten Opfer starben, als unbekannte Scharfschützen gezielt auf Demonstranten feuerten. Auch Sicherheitskräfte wurden getötet.
Zudem lieferten sich Regimegegner und Polizisten im Verlauf des Tages schwere Strassenkämpfe. Rund um den Unabhängigkeitsplatz (Maidan) herrschten bürgerkriegsartige Zustände. Nach offiziellen Angaben starben allein am Donnerstag mindestens 39 Menschen, radikale Regierungsgegner sprachen von mindestens 60 Toten.
Wer geschossen hat, ist unklar
Opposition und Regierung machten sich gegenseitig für die blutige Eskalation der Lage verantwortlich. Für SRF-Korrespondent Christof Franzen ist klar: Der Konflikt hat eine neue Dimension erreicht. «Das kam überraschend, denn in der Nacht zuvor hatte man sich auf einen minimalen Kompromiss geeinigt», sagte er in der «Tagesschau».
Franzen: Janukowitsch will an der Macht bleiben
Wer genau auf die Demonstranten schoss, ist unklar. Auf Fotos und TV-Bildern waren teils vermummte Scharfschützen in Uniformen zu sehen. Gerüchten zufolge könnte es sich entweder um ausser Kontrolle geratene Geheimdienstmitarbeiter, bezahlte regierungstreue Provokateure oder auch russische Spezialeinheiten handeln.
Das Innenministerium räumte Schüsse auf Demonstranten ein – allerdings sei dies nur aus Notwehr geschehen, um unbewaffnete Kollegen aus der Gefahrenzone zu retten.
Nach der Eskalation der Lage erteilte das ukrainische Innenministerium seinen Sicherheitskräften die Genehmigung, landesweit mit scharfer Munition gegen radikale Demonstranten vorzugehen.
«Präsident Janukowitsch will mit allen Mitteln an der Macht bleiben», erklärt Franzen in der «Tagesschau». Das sei sein einziges Ziel. Wenn er glaube, er könne dies besser mit Kompromissen an die Opposition erreichen, dann mache er dies. Wenn ihm geraten werde, er solle Gewalt anwenden, dann tue er auch das «Klar ist derzeit: Das Gesamtwohl der Bevölkerung ist für ihn nicht mehr prioritär.»
Kiews Bürgermeister wechselt die Seite
Auf Regierungsseite sind allerdings nicht alle mit der Vorgehensweise Janukowitschs einverstanden. Das trifft auch auf Volodimir Makijenko zu. Der Bürgermeister von Kiew ist aus der Partei von Präsident Viktor Janukowitsch ausgetreten. Er begründete seinen Schritt mit Kritik am Kurs Janukowitschs. Dieser hatte ihn des Amtes enthoben.
«Die heutigen Ereignisse in den Strassen der Ukraine sind eine Tragödie für das gesamte Volk», sagte Makijenko. Menschenleben seien das höchste Gut. Dieses Prinzip dürfe nicht ausgehebelt werden.
Wenige Stunden nach dem am Mittwochabend von Regierung und Oppositionsführung vereinbarten Gewaltverzicht waren radikale Demonstranten am Morgen ins Regierungsviertel vorgedrungen. Sie vertrieben vorübergehend die dort stationierten Sicherheitskräfte, wie örtliche Medien berichteten. Regierungssitz und Parlament seien von den Sicherheitskräften überstürzt geräumt worden. Die radikale Oppositionsgruppierung Rechter Sektor hatte mitgeteilt, sich nicht an den Gewaltverzicht halten zu wollen.
Oppositionspolitiker Vitali Klitschko machte die Staatsführung für den Bruch des Gewaltverzichts verantwortlich. «Die Regierung hat vor den Augen der gesamten Welt zu blutigen Provokationen gegriffen», hiess es in einer Mitteilung. «Bewaffnete Verbrecher wurden auf die Strassen gelassen, um Menschen zu verprügeln.»