- Am kommenden Montag wählen die Norwegerinnen und Norweger ein neues Parlament.
- Zum Wahlkampfthema ist nun eine Region weit entfernt vom norwegischen Mutterland geworden: die Inselgruppe Spitzbergen unweit des Nordpols.
- In der Hocharktis prallen norwegische Ansprüche nicht nur auf die Begehrlichkeiten anderer Länder: Sie kollidieren auch mit lokalen Interessen.
Dass die Inselgruppe Spitzbergen (auf norwegisch «Svalbard») nicht wie oft auf Karten ausgewiesen zum norwegischen Staatsgebiet gehört, wird schon im Flughafen der norwegischen Hauptstadt Oslo deutlich. Im Unterschied zu anderen innernorwegischen und innereuropäischen Flügen werden die Passagiere in den gut 2000 Kilometer weiter nördlich gelegenen Hauptort des Archipels – Longyearbyen – streng kontrolliert.
Und das seit bald einem Jahrhundert, als sich in Paris nach dem ersten Weltkrieg die Grossmächte darauf einigten, dem damals noch jungen unabhängigen Norwegen die Verwaltungshoheit über die Inselgruppe zu erteilen. Der «Svalbardvertrag», dem seither fast 50 Staaten – darunter auch die Schweiz – beigetreten sind, besagt, dass norwegische Gesetze auf dem Archipel nur mit Einschränkungen gelten.
2600 Einwohner, 3000 Eisbären
Der oberste Polizist des 61'000 Quadratkilometer Landfläche umfassenden Gebietes, Ole Jakob Malmo, erklärt: «Der wichtigste Unterschied zu Norwegen ist, dass hier in Spitzbergen niemand wegen seiner Nationalität diskriminiert werden darf und also kein Unterschied zwischen Norwegern und Nicht-Norwegern gemacht werden darf».
Unser Verhältnis zu Russland hier oben ist bestens.
Malmo ist neben den gut 2600 Bewohnern der Inselgruppe auch um das Wohl der fast 3000 Eisbären besorgt: «Wegen der Eisbären darf man sich auf Spitzbergen ausserhalb der Ortschaften nur bewaffnet bewegen. Allerdings dürfen Eisbären nur im äussersten Notfall getötet werden.» Am gleichen Tag beschattet Malmo mit einem Team eine Eisbärenfamilie, die sich in die Nähe des Hauptortes Longyearbyen vorgewagt hat.
Der Kreml schielt nach Spitzbergen
Doch während die Eisbären – zumindest aus sicherer Distanz – vor allem aus Sicht der Touristiker gerne gesehen werden, macht man sich im fernen Oslo mehr Sorgen um den mächtigen Nachbarn Russland. Moskau hat in den letzten Jahren seine Infrastruktur in der sibirischen Arktis umfassend modernisiert – und nun auch begonnen, in die beiden russischen Siedlungen auf Spitzbergen zu investieren.
Um dagegen zu markieren, hat die bürgerliche norwegische Regierung unlängst eine Gruppe von Parlamentariern des Nato-Rates nach Longyearbyen entsandt. Zudem sollen die in den letzten Jahren aus wirtschaftlichen Gründen stillgelegten Kohlegruben wieder in Betrieb genommen werden.
«Willkommen auf russischem Boden»
Von beidem hält der sozialdemokratische Bürgermeister von Longyearbyen, Arild Olsen, jedoch wenig: «Dass sich Russland der Inseln bemächtigen möchte und wir aus diesem Grund die Kohlegruben wiedereröffnen sollten, betrachte ich als einen völligen Unsinn», sagt der frühere Kohlenmineur. Er betont, «dass das Verhältnis zu Russland hier oben bestens ist.» Eine Einschätzung allerdings, die so von vielen Politikern im fernen Oslo nicht geteilt wird.
Gut 60 Kilometer von Longyearbyen entfernt, an einem anderen Fjord der Westküste von Spitzbergen, befindet sich tatsächlich eine der beiden durch und durch russischen Siedlungen: Barentsburg. Ursprünglich von Holländern zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gegründet, wurde der Ort später an die Sowjetunion verkauft – und gehört heute dem staatlichen russischen Bergbauunternehmen Trust Arktikuol.
«Willkommen auf russischem Boden», sagt Andrej Nimkov, der externe Besucher am Hafen empfängt und sie auf einer holprigen Bustour durch die kleine Stadt mit gut 800 Einwohnern begleitet. Auf dem Hauptplatz vor dem Kulturpalast sowjetischen Baustils steht noch immer ein massives Lenindenkmal: «Unser Held», sagt Andrej mit einem Lächeln.
Endstation Spitzbergen
Dabei täuscht sowohl die intakte Kulisse im post-sowjetischen Barentsburg wie auch die immer noch allgegenwärtige Kohlebergwerk-Infrastruktur im norwegischen Longyearbyen darüber hinweg, dass Spitzbergen gemäss Vertrag vor allem eines ist: ein internationales und von Norwegen lediglich verwaltetes nationenfreies Territorium – auf halbem Weg zwischen Nordkapp und Nordpol.
Bürgermeister Olsen in Longyearbyen macht deutlich, was dies bedeutet: «Wir haben immer mehr Leute hier, für welche Spitzbergen zu einer Art Endstation wird: das sind zum Beispiel Menschen aus Asien, die sich wegen der Visumsfreiheit hier oben angesiedelt haben – sie haben ihre Muttersprache verlernt, können aber auch nicht nach Norwegen oder ein anderes europäisches Land übersiedeln.»
Die bunt gemischte Gesellschaft auf Spitzbergen, zu der Menschen aus über 50 Staaten gehören, emanzipiert sich immer mehr von den strategischen Vorstellungen der Politiker in Oslo oder Moskau. Im norwegischen Wahlkampf fordern deshalb vor allem kleinere Parteien im politischen Zentrum eine Neuausrichtung der norwegischen Svalbardpolitik.