Bis kurz vor dem Treffen wusste sie nicht, ob sie kommen solle. «Ich dachte, das sei spiessig», sagt Michèle aus dem Sensebezirk im Saal Grenette in der Freiburger Altstadt. Ein Schulkollege von ihr, Laurent Bächler, fügt an: «Ich dachte auch, ich sei noch nicht bereit für einen Jahrgänger – ich bin zu jung, um zurückzublicken.»
Der Jahrgänger hat tatsächlich einen verstaubten Ruf – das mache man, wenn mal alt ist, heisst es bei vielen Jüngeren. Die beiden Sensler sind trotzdem an den Jahrgänger der 89er gekommen.
Es ist der erste Jahrgänger für die Freiburgerinnen und Freiburger, die im Jahr 2019 30 Jahre alt wurden oder werden. «Bei einem Bier im Bad Bonn in Düdingen haben wir vor zwei Jahren beschlossen, den Jahrgänger an die Hand zu nehmen», sagt der Präsident des Jahrgängervereins 1989 Deutschfreiburg, Jonas Mauron. Zusammen mit gleichaltrigen Kollegen hat er ein Organisationskomitee gegründet.
Per Facebook-Gruppe, Whatsapp, Zeitungsinserat und Mund-zu-Mund-Propaganda haben sie die 89er für die Gründungsversammlung des Jahrgängervereins 1989 Deutschfreiburg mobilisiert.
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Bild 1 von 3. Der Saal la Grenette in der Freiburger Altstadt ist bereit für die 30-jährigen Freiburgerinnen und Freiburger. Bildquelle: SRF/ZVG.
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Bild 2 von 3. Jeder mit Jahrgang 1989 erhält einen Aufkleber mit dem Logo des Jahrgängervereins. Bildquelle: SRF/ZVG.
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Bild 3 von 3. Darf am Jahrgänger nicht fehlen: Getränke für das Apéro und die spätere Party. Bildquelle: SRF/ZVG.
Knapp 200 Leute sind an den Jahrgänger gekommen, der mit einem offiziellen Teil – einer Generalversammlung – beginnt. Dabei werden der Vorstand gewählt, die Statuten genehmigt oder das Jahresprogramm definiert. Eine Generalversammlung halt. Wobei der Jahrgängerverein versucht hat, diese aufzulockern – mit einem Lotto oder witzigen Sprüchen. Danach wird gegessen, getrunken, gelacht und vor allem viel erzählt.
Mehr als ein Klassentreffen
Das Spezielle am Jahrgänger: Es ist nicht ein, es sind gleich mehrere Klassentreffen. Man trifft ehemalige Schulkolleginnen und Kollegen aus der Primarschule, der Oberstufe, des Collèges, der Uni – aber auch Sandkastenfreunde, Kollegen aus dem Sportverein, des Musikunterrichts, aus der Parallelklasse. Alle, die denselben Jahrgang haben.
Es ist lustig, Leute aus den verschiedenen Phasen des Lebens wiederzusehen. Leute aus dem Raum Freiburg, die du im Alltag nicht siehst.
So habe man die Gelegenheit, Kolleginnen und Kollegen aus dem Raum Freiburg wieder einmal zu treffen, sagt Melanie Bärtschi, die nicht mehr in der Region wohnt.
Die Streiche von damals
Je später der Abend, desto mehr drehen sich die Gespräche um gemeinsame Erlebnisse – um Streiche, die man in der Schulzeit gespielt hat. «Ein Lehrer von uns hat immer gestunken. Jedes Mal, wenn er vorbeilief, haben wir ein Duftspray versprüht», erzählt eine Teilnehmerin. Ihre Schulkollegen erinnern sich, fangen an zu lachen und erzählen weitere Szenen aus der Schulzeit.
Überall sieht man zufriedene Gesichter, Neugier, Erstaunen darüber, was die Kollegen, die man teilweise 15 Jahre nicht gesehen hat, erlebt haben. Er sei froh, sei er gekommen, sagt Laurent Bächler, der lange nicht gewusst hatte, ob er kommen soll: «Es geht gar nicht um die dritte Säule, wie ich befürchtet hatte.»
Die gemeinsame Vergangenheit verbindet
Die Leute im Raum haben einiges zusammen erlebt, das schweisst zusammen. Was machst du jetzt? Wo arbeitest du? Weisst du noch früher?Während alte Geschichten wieder aufflackern und die Lebensläufe ausgetauscht werden, realisieren die Deutschfreiburger, dass sie doch langsam älter geworden sind – 30. Jetzt beginne das mit dem Jahrgänger, heisst es.
Mit 30 haben wir nun eine gewisse Reife erreicht.
«Mein Vater hat mir gesagt: Schau, beim ersten Treffen sind noch viele dabei, aber in 30 Jahren wird niemand mehr kommen», erzählt Tanja Schertenleib-Bächler. Tatsächlich haben die Erfahrungen aus mehreren Jährgängern gezeigt, dass nach der Gründungsversammlung nicht mehr so viele Jahrgänger mobilisiert werden können. Trotzdem hat die Tradition überlebt.
Deutschfreiburg und Raum Appenzell
Woher kommt diese Tradition? Da Vereine nicht im Staatsarchiv Freiburg erfasst werden, kann man den genauen Ursprung nicht eruieren. Laut dem schweizerischen Wörterbuch Idiotikon hat sich der Jahrgängerverein aus dem Kanton Sankt Gallen ausgebreitet. Das Wörterbuch hat eine Quelle aus dem Jahr 1829 gefunden. Im 19. Jahrhundert sah man die Jahrgänger vor allem in der Ostschweiz. «Es kann sein, dass sich der Jahrgänger von der Ostschweiz aus bis nach Freiburg verbreitet hat», sagt der Sensler Journalist und Dialektologe Christian Schmutz. «Die Tradition kann sich aber auch in verschiedenen ländlichen Gebieten selber entwickelt haben.»
Heute wird der Jahrgänger vor allem im Appenzell und in Deutschfreiburg gelebt.
Früher waren die Jahrgänger nur für Männer offen. Heute richten sie sich an Männer und Frauen mit dem gleichen Jahrgang. Und heute könne man sagen, dass die Tradition noch im Appenzell, vor allem Appenzell Innerrhoden und im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg aktiv gelebt werde, sagt Schmutz. Das habe wahrscheinlich damit zu tun, dass dies regionale, übersichtliche Gegenden sind, in denen ein Zusammenhalt wichtig ist.
Ein Grund, wieso die Tradition in Deutschfreiburg immer noch funktioniert könne sein, dass die deutschsprachige Minderheit im Kanton zusammenstehen wolle, so Schmutz. Ein Drittel der Freiburger sind deutschsprachig, zwei Drittel sprechen Französisch. Gerade die Leute aus dem Sensebezirk seien bekannt dafür, nicht im Mittelpunkt stehen zu wollen und gerne in Gruppen seien. «Das Vereinsleben im Sensebezirk ist unglaublich stark», sagt Schmutz.
Die Jahrgänger sind weiterhin beliebt – die Umsetzung hat sich jedoch in den letzten Jahren verändert. «Früher war der Jahrgänger DAS Ereignis – da ging man in den Ausgang», sagt Christian Schmutz. Es sei ein Heiratsmarkt gewesen – man schaute: Wer kann gut tanzen? Wer sieht schön aus? Die Tanzmusik wurde abgelöst von DJs. Die Art und Weise habe sich zwar verändert, die Musik und das Tanzen gehöre aber immer noch dazu.
Den Jahrgänger wird es weiterhin geben.
Und so stehen auch die 89er an ihrem Jahrgänger auf der Tanzfläche – tanzen zur Musik der DJs Trottles of the Dead. Wie viele von ihnen auch in den nächsten Jahren dabei sein werden, ist offen. Offen ist auch, wie viele 30-Jährige nächstes Jahr an den Jahrgänger der 1990er kommen werden. Christian Schmutz ist aber überzeugt, dass die Tradition der Jahrgänger weiterleben wird. Es gebe Jahrgänge, die sich nicht jedes Jahr treffen, weil niemand die Initiative ergreife. Und wenn die Leute 80 oder 90 Jahre alt werden, würden die Vereine oft aufgelöst. «Ich glaube aber nicht, dass der Jahrgänger verschwindet.»
(Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 29.11.2019, 12.03/17:30 Uhr)