SRF News: Dagmar Pauli, in welchem Alter merkt man, dass der eigene Körper nicht zur Identität passt?
Dagmar Pauli: Transmenschen sind sehr verschieden, so ist es auch bei Kindern. Manche merken bereits mit drei oder vier, dass sie ein Mädchen sind, auch wenn sie als Junge zugewiesen wurden oder umgekehrt. Bei anderen ist es mehr so ein diffuses Gefühl von anders sein: Sie fühlen sich nicht wohl, wissen aber nicht, woran das liegt. Später – im Jugend- oder Erwachsenenalter – kommt dann vielleicht das Bewusstsein und das Outing.
Viele bekommen das Bewusstsein in der Pubertät. Warum genau dann?
In der Pubertät wird Jugendlichen viel bewusst. Die Geschlechtsmerkmale und der Körper entwickeln sich. Für viele ist es eine sehr schwierige Phase, weil sie die Entwicklung stark ablehnen. Es fühlt sich für sie total falsch an, wenn die Brüste wachsen, der Bart spriesst oder der Stimmbruch kommt. Es gibt viele, die an sich zweifeln, depressiv werden oder nicht mehr weiterleben wollen.
Das ist eine grosse psychische Belastung nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Eltern.
Eltern können die Gefühle oft nicht nachvollziehen. Viele machen sich grosse Sorgen, wie es rauskommt oder fragen sich, ob es die richtige Entscheidung ist, wenn sich Jugendliche als Transmenschen outen. Ich verstehe alle Eltern, die vorsichtig sind und Mühe damit haben. Es braucht Zeit, das Bild vom eigenen Kind loszulassen. Das ist kein einfacher Prozess.
Welche Möglichkeiten haben Transkinder?
Das ist sehr individuell. Im frühen Jugendalter gibt es die Möglichkeit einer hormonellen Pubertätsblockade. Die Behandlung ist umkehrbar und nicht definitiv. Dadurch gewinnt man Zeit, kann sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen und muss sich nicht sofort definitiv entscheiden.
Ist eine Operation, also eine Geschlechtsangleichung, für alle die Lösung des Konflikts zwischen Identität und Körper?
Transmenschen sind sehr verschieden, auch bezüglich ihrer Identität und ihrer Wünsche. Es gibt viele Junge, die sagen, sie möchten keine oder nur ein Teil der Behandlung, auch wenn sie sich als Transmensch fühlen.
Die Gesellschaft muss also lernen mit diesen Nuancen zu leben?
Das ist ohnehin so. Wir müssen wegkommen von den einengenden Geschlechtskategorien. Transmenschen geraten dadurch unter Druck. Sie denken, dass sie alle Klischees erfüllen müssen, um ein richtiger Mann oder eine richtige Frau zu sein. Wenn wir von den aktuellen Kategorien wegkommen, gibt das eine riesige Erleichterung. Transmenschen denken dann nicht mehr, dass sie alle Behandlungen machen müssen, die zum perfekten männlichen oder weiblichen Aussehen gehören.
Das Gespräch führte Arthur Honegger.
Geboren im falschen Körper – das ist auch das Schicksal von Stefanie Hetjens. Aber für sie war immer klar: «Ich bin eine Frau. Nur die Menschen um mich herum haben halt gedacht, ich sein ein Mann, weil ich so aussehe.» Deshalb sei das einzige, was sie angepasst habe, ihr Äusseres. «Ich habe nicht mein Geschlecht gewechselt, sondern mein Aussehen an mein Gefühl angepasst», erzählt die 34-Jährige gegenüber «10vor10».
Bis ins Alter von 29 lebte Hetjens als Mann. Obwohl sie bereits im Kleinkindalter spürte, dass dies für sie nicht passt. «Deshalb habe ich mir Verhaltensarten angelernt, um zu verbergen, dass ich eine Frau bin.»
«Hinter dem eigenen Gefühl stehen»
Bis vor fünf Jahren hat Hetjens ihre Gefühle verdrängt. Unterdessen machte sie Karriere in der Werbebranche und lebte in einer Partnerschaft – bis sie es nicht mehr aushielt.
«Das allererste, das man machen muss, ist ein Coming-out zu einem selber. Man muss dahinterstehen können, dass das eigene Gefühl korrekt ist.» Nach dem sie das geschafft hatte, öffnete sie sich gegenüber Freunden und der Familie.
Ein Outing ist für viele undenkbar
Seit ihrer Geschlechtsangleichung, der Transition, engagiert sich Hetjens politisch. Heute ist sie Co-Präsidentin des Dachverbandes Schweizer Transmenschen . Die Gemeinschaft wächst stetig: In diesem Jahr fanden im September 150 Transmenschen den Weg zur 5. Tagung in Sursee .
Hetjens nimmt selber jedes Jahr an der Tagung teil. Es sei ein guter Ort, um sich auszutauschen und den Leuten zu helfen, ihren Weg zu gehen. In einem der zahlreichen Workshops an diesem Wochenende erzählt Hetjens, was es beim Outing am Arbeitsplatz zu bedenken gilt.
«Es ist euer Coming-out. Es ist nicht das vom Unternehmen. Ihr habt viel Macht, das zu gestalten. Überlegt euch, macht euch einen Plan», rät sie den vielen Teilnehmenden. Für viele ist allerdings schon der Weg an die Tagung ein Riesenschritt – ein Outing in der Öffentlichkeit undenkbar.
«Ich stehe mitten im Leben»
Vor dem Gesetz sollten alle Menschen gleich sein – so steht es in der Bundesverfassung. Weder Staat noch Arbeitgeber dürfen Menschen wegen ihres Geschlechts diskriminieren. Dennoch, für Transmenschen kann der Schritt an die Öffentlichkeit auch im Berufsleben heikel sein.
«Wenn etwas schiefläuft beim Coming-out und man vielleicht seinen Job verliert oder man vielleicht gar keinen Job mehr findet, ist das natürlich ein grosser Einschnitt ins Leben und damit ein wichtiger Punkt in der Transition», weiss Hetjens.
Als Beratungsleiterin in einer Agentur lebt sie aber vor, wie es gelingen kann und macht klar: für sie selber bedeutet die Anpassung alles. Für das Umfeld hingegen ändere sich fast gar nichts, ist sie überzeugt. Und Hetjens kann heute sagen: «Jetzt bin ich glücklich. Ich weiss, wer ich bin und was ich bin. Ich stehe mitten im Leben.»