Jochen Kindler erzählt von einem 15-jährigen Mädchen, das kürzlich im Ambulatorium der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kanton Bern war: «Sie wollte nicht mehr Leben, hat sich selbst verletzt und ist in drastischem Zustand in das Notfallzentrum eingeliefert worden.»
Danach habe sie mit einer Therapie im Ambulatorium «Atrisk» begonnen, dort, wo Jochen Kindler der leitende Arzt ist. «Wir haben festgestellt, dass das Mädchen Eltern mit hohen Ansprüchen hat. Die Tochter hat die Ansprüche übernommen und sich die Ziele so hoch gesetzt, dass sie nicht mehr erreichbar waren.» Sie sei traurig geworden, habe sich zurückgezogen und sich verletzt.
Hoher Druck, Depressionen, Drogen
Selbstverletzungen hätten stark zugenommen, sagt Jochen Kindler. Das sehe er im Arbeitsalltag. Zwar gebe es für die Schweiz keine Zahlen. Aber man wisse: «Rund 15 Prozent aller Jugendlichen verletzen sich irgendwann selbst.» Gründe seien Druck in Schule und Alltag, psychische Erkrankungen, aber auch Suchtmittelkonsum.
Aus diesem Grund hat die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie das Ambulatorium «Atrisk» gegründet. Dort können sich Jugendliche mitunter spontan in eine offene Sprechstunde kommen, ohne Termin. «Das Angebot wird benutzt», sagt Jochen Kindler.
Sich einem Erwachsenen anzuvertrauen, stellt für viele Jugendliche eine Hürde dar.
Ein bis vier Jugendliche kommen jeweils vorbei zu einem Gespräch. Viele hätten aber noch Respekt: «Es bleibt die Restangst, als Psychiatriefall zu gelten, gerade bei den Jugendlichen.» Für viele stelle es eine Hürde dar, sich einem Erwachsenen anzuvertrauen. «Wenn sie aber hier hinausgehen, dann ritzen sie sich im Normalfall nicht mehr.»
Verdreifachung der Fälle in der Psychiatrie
Das Ambulatorium an der Effingerstrasse 6 in Bern ist eine Massnahme, um auf die steigenden Zahlen von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen zu reagieren, sagt Michael Kaess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bern.