Der St. Galler Stadtrat hat sich für eine Weiterführung des Geothermie-Projektes entschieden. Er setzt dabei auf Zeit. Erst wird das Bohrloch im Sittertobel stabilisiert. Dann werden Produktionstests durchgeführt, die zeigen sollen, ob es in der Tiefe genügend heisses Wasser für das geplante Geothermie-Kraftwerk hat. Danach wird das Bohrloch provisiorisch verschlossen. Das Erschliessungskonzept wird falls nötig modifiziert und Anpassungen am Projekt vorgenommen. Dann soll laut Stadtrat möglicherweise nochmals Parlament und Volk darüber abstimmen.
Der Erdbebendienst gibt grünes Licht
Geophysiker des Schweizerischen Erdbebendienstes der ETH Zürich und die am Projekt beteiligten Geologen haben alle vorliegenden seismischen Messungen untersucht. In einem internen Bericht empfahlen sie dem Stadtrat die Weiterführung des Geothermie-Projektes. Der Stadtrat hat diesen Bericht an der Sitzung am Dienstag diskutiert und grünes Licht für die Fortführung gegeben. Die Ängste vor einem möglichen zweiten Erdbeben nehme man dabei sehr ernst, sagte Stadtrat Fredy Brunner (FDP) an einer Medienorientierung. Der St.Galler Untergrund werde weiterhin seismisch überwacht; sogar kleinste Erschütterungen, die vom nationalen Erdbebendienst nicht registriert werden könnten, würden in St.Gallen aufgezeichnet.
In einem ersten Schritt soll nun das bestehende Bohrloch wieder befahrbar gemacht werden. Nach einem geophysikalischen Logging - darunter versteht man die Aufnahme des Untergrundes mit speziellen Messgeräten - soll auf der letzten Bohrstrecke zwischen 4002 und 4450 Metern ein perforiertes Rohr eingebaut werden.
Durch den Projektstopp sind Mehrkosten von rund 40'000 Franken pro Tag entstanden. Dennoch liege man im Budget, so Stadtrat Fredy Brunner. Für die Bohrarbeiten wurden rund 38 Millionen ausgegeben, für die Seismik rund 10 Millionen Franken.
Die Weiterführung des Geothermie-Projektes wurde im Vorfeld von Politkern aller Parteien gefordert. Vergangene Woche hat die FDP-Fraktion des Stadtparlaments explizit die Fortführung des Geothermie-Projekts gefordert.
Die Vorgeschichte des Pionierprojekts
Mit der Geothermie-Anlage wollen die Sankt Galler Stadtwerke rund die Hälfte aller Gebäude in der Stadt St. Gallen beheizen. Gleichzeitig soll Ökostrom für bis zu 3000 Haushaltungen produziert werden. Im April 2008 wurden die Ideen für das ambitionierte Projekt mit einer Machbarkeitsstudie evaluiert, im August 2009 wurde der Abschlussbericht der Öffentlichkeit vorgestellt.
Parallel zur Erarbeitung der Studie informierte der Stadtrat die Bevölkerung, und im Juli 2009 wurden erste Arbeiten für die seismische Untersuchung des St. Galler Untergrundes ausgeschrieben. Das forsche Vorgehen des Stadtrates sorgte im Stadtparlament für wenig Diskussionsstoff: Mit nur einer Gegenstimme passierte im September 2009 die erste Kreditvorlage die städtische Legislative.
Nachdem die seismischen Messungen im Januar 2010 positiv waren und Experten den St. Galler Untergrund als potenziell geeignet für eine Geothermie-Grossanlage bezeichneten, wurde eine zweite Kreditvorlage für den Bau eines Geothermie-Kraftwerkes und den Ausbau des Fernwärmenetzes im August 2010 von allen Fraktionen des Stadtparlaments einstimmig und ohne Enthaltungen genehmigt.
Drei Monate später stimmten auch die St. Gallerinnen und St. Galler einem Kredit über 159 Millionen Franken deutlich zu, mit einem Ja-Stimmenanteil von 82,9 Prozent.
Nach einigen Verzögerungen wurden am 4. März 2013 die Bohrarbeiten gestartet. Bis zu den Sommerferien wurde mehrheitlich problemlos in den Untergrund gebohrt. Auf einer Tiefe von 4002 Metern wurden am 14. Juli erste Tests durchgeführt. Diese brachten positive Resultate. Allerdings: Eine Woche später kam es zu einem Erdbeben der Stärke 3,5 auf der Richter-Skala. Das Beben war in weiten Teilen der Ostschweiz spürbar und führte zu über 120 Schadensmeldungen. Die Bohrarbeiten im Sittertobel wurden daraufhin sofort gestoppt.