Zum Inhalt springen

Alle ins Netz Das Smartphone – eine Revolution für Indien

Dank billiger Geräte kommen breite Bevölkerungsschichten aufs Internet. Das Smartphone verändert die Gesellschaft.

Im Jahr 2000 waren bereits mehr als die Hälfte der Amerikaner online – in Indien lediglich 2 Prozent der Bevölkerung oder 20 Millionen Menschen. Doch Indien hat aufgeholt: Heute haben rund 500 Millionen Inderinnen und Inder Zugang zum Netz, bei einer Bevölkerung von rund 1,3 Milliarden Menschen.

Billig-Smartphones lösen Boom aus

Diese Wachstumsrate sei einmalig in der Geschichte, sagt der Journalist und Autor Ravi Agrawal. Der ehemalige CNN-Korrespondent spricht von einer Revolution.

Ravi Agrawal

Journalist und Autor

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Ravi Agrawal wurde in London geboren und wuchs in Kalkutta auf. Nach einem Studium an der Universität Harvard arbeitete er während mehr als zehn Jahren als Journalist und Produzent für den amerikanischen Fernsehsender CNN an verschiedenen Standorten, darunter in London, Neu-Delhi und New York. Seit April ist er Chef vom Dienst des US-Magazins Foreign Policy.

Im Buch «India Connected: How the Smartphone is Transforming the World's Largest Democracy » , das im Herbst auf den Markt kommt, geht Ravi Agrawal der Frage nach, wie das Smartphone Indien, die grösste Demokratie, verändert.

Zwei Faktoren lösten den indischen Smartphone-Trend aus: billige Geräte unter 50 Dollar und attraktive Prepaid-Angebote. Plötzlich ist das Internet für die grosse Masse erschwinglich geworden.

Das Smartphone sei aber noch viel mehr als bloss ein Mobiltelefon mit Internetverbindung, erzählt Ravi Agrawal: «Im Westen haben die Menschen seit langem Fernseher, Kameras, Taschenrechner oder einen Wecker.» Nicht so in Indien. Die meisten Menschen haben erstmals dank dem Smartphone Zugang zu diesen Geräten, die für uns schon lange selbstverständlich sind.

Smartphone und Internet werden die indische Gesellschaft in einem Tempo verändern wie kaum eine Technologie zuvor.
Autor: Ravi Agrawal Journalist und Autor

Das eröffnet einer breiten Schicht ganz neue Möglichkeiten: Wer auf dem Land lebt und eine Stromrechnung bezahlen muss, der musste bis anhin zur nächsten Poststelle fahren. Und das könne einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, so Ravi Agrawal. Mit Hilfe des Smartphones können diese Leute ihre Rechnungen übers Internet bezahlen: eine massive Erleichterung.

Auch für die 270 Millionen Analphabeten in Indien ist das Smartphone eine Hilfe: «Über die Spracheingabe kann man zum Beispiel nach einem Rezept suchen. Die Antwort präsentiert Google dann als Video», sagt Agrawal.

Er ist überzeugt: Smartphone und Internet werden die indische Gesellschaft in einem Tempo verändern wie kaum eine Technologie zuvor in der Geschichte.

Inder mit Fahhrad am Strassenrand, in den Händen hält er ein Smartphone.
Legende: Smartphone im Alltag: Ein Mann in Kalkutta liest die neusten Nachrichten. Reuters

Ohne Umweg ins Smartphone-Zeitalter

Im Westen haben sich beim Internetzugang in den letzten 20 Jahren verschiedene Technologien abgelöst: Auf PC und Modem folgten WLAN und mobiler Internetzugang. Die indische Gesellschaft macht nun einen Sprung direkt ins Smartphone-Zeitalter.

Am ehesten könne man die Umwälzungen in Indien noch mit der Einführung des Autos in den USA vergleichen: Mitte des 20. Jahrhunderts wurde in Strassen investiert, was Arbeitsplätze schuf. Dann zogen die Menschen aus den Zentren in die Vororte, es entstanden Supermärkte, Mega-Malls und Multiplex Kinos.

Viele junge Inder küssen zum ersten Mal über das Smartphone.
Autor: Ravi Agrawal Journalist und Autor

Das Auto beeinflusste das Lebensgefühl: «Das eigene Auto war in den USA für viele junge Menschen die erste Anschaffung, es waren die ersten eigenen vier Wände. Viele haben zum ersten Mal in einem Auto geküsst.»

Die gleiche Bedeutung habe nun das Smartphone für junge Menschen in Indien, meint Ravi Agrawal: «Viele junge Inder küssen zum ersten Mal über das Smartphone – virtuell über die Dating-App Tinder mit einem Emoticon. Es ist ihre Mobilität im wörtlichen und übertragenen Sinn.»

«Der Porno-Konsum ist explodiert»

Jede Technologie habe aber auch Nachteile, sagt Ravi Agrawal. Viele der negativen Seiten des Internets, die man auch in den industrialisierten Ländern zu spüren bekomme, wirkten sich in Indien noch viel stärker aus. Das habe unter anderem damit zu tun, dass ahnungslose Eltern ihre Kinder dem Smartphone überlassen, weil sie die Folgen nicht abschätzen können.

Dazu kommt, dass die indische Gesellschaft auf vieles nicht vorbereitet ist. Vor 15 Jahren sei es schwierig gewesen, an pornographische Videos zu gelangen. Heute sei der Konsum von Pornographie regelrecht explodiert: «Der Manager eines Telekom-Anbieters, der nicht genannt werden will, sagte mir, dass Pornographie 40 bis 70 Prozent des Datenverkehrs ausmacht, der über ihre Netze läuft», so der Journalist.

Zwei Männer vor der Zeichnung eines Tigers mit der Aufschrift "Google".
Legende: Google-CEO Pichai und Premier Modi 2015: Im Gegensatz zu China sind westliche Konzerne im indischen Markt gut verankert. Reuters

Der Unterschied zu China

Indien gilt heute als Internet-Nation Nummer zwei gleich hinter China. Die chinesischen Internetkonzerne haben mittlerweile eine Ausstrahlung, die weit über die das Reich der Mitte hinausgeht: Tencent gehört zu den erfolgreichsten Game-Produzenten weltweit, Online-Händler Ali Baba liefert in die Schweiz.

Kommt der nächste Mega-Konzern aus Indien? Ravi Agrawal bezweifelt das: Zum einen verfügt Indien nicht über die gleichen finanziellen Mittel wie China, zum anderen sind grosse amerikanische Internet-Giganten wie WhatsApp, Facebook und Google bereits fest im indischen Markt verankert. Ganz anders in China: Dort wurde den Konzernen der Marktzutritt verweigert, der Staat schuf so einen geschützten Raum für chinesische Startups.

Die Smartphone-Revolution hat also nicht unmittelbare Auswirkungen auf die Stellung der indischen Wirtschaft in der Welt. Doch was den Einfluss auf die eigene Bevölkerung angeht, sei ihre Kraft in Indien einmalig, ist Ravi Agrawal überzeugt.

Meistgelesene Artikel