Das «immersive Arbeitsheft» ist ein hybrides Lehrmittel – ein gedrucktes Heft, das mit einer Augmented-Reality-Brille (AR-Brille) erweitert wird. Das sei «bitz‘ komisch», meint Flurina, die das neue Lehrmittel im Schulhaus Guggenbühl Winterthur gerade ausprobiert hat. «Man hat ein Buch vor sich, aber man sieht trotzdem etwas wie in einem Computer drin.»
Und das meint die Zwölfjährige damit: Die Schüler lesen zuerst einen Text, zum Beispiel darüber, wie Archäologen Daten sammeln und verarbeiten. Dann setzen sie die AR-Brille auf, schauen auf das grosse Bild neben dem Text – und sehen dort ein rätselhaftes Objekt, schwebend im Raum, im Klassenzimmer.
Archäologinnen haben dieses Objekt 2017 beim Zürcher Uetliberg gefunden. Dieses Fundstück können die Schülerinnen nun im erweiterten Raum drehen, von allen Seiten betrachten – und vermessen. Sie graben sozusagen in der Vergangenheit, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.
Dadurch werde Archäologie dreidimensional und fassbar, sagt Lehrerin Sylvia Stöckli. Aber auch historisch-dimensional, sodass man beispielsweise Zürich in verschiedenen Jahrtausenden sehen oder im Boden verschiedene Schichten betrachten könne.
Informationen hinterfragen
Das seltsame Fundstück vom Uetliberg soll 2500 Jahre alt sein. Aber: Wie sind die Forscherinnen auf diese Aussage gekommen? Solche Fragen zu beantworten sei eine der wichtigsten Kompetenzen, die man mit dem «immersiven Arbeitsheft» lernen könne, meint die Pädagogin.
Es gehe darum, dass man nicht einfach nur Fakten auswendig lerne, sondern auch beurteilen könne, woher die Behauptungen stammen, wie und warum aus Informationen bestimmte Schlüsse gezogen werden. Diesen Anspruch könne das «immersive Arbeitsheft» gut erfüllen, auch fächerübergreifend bis hin zum Fach «Medien und Informatik».
Hier schliesst sich der Bogen zu den sozialen Medien – das ist fächerübergreifende Kompetenz, die die Schüler hier entwickeln müssen.
Wer lerne, Fakten zu beurteilen, könne dann auch die Inhalte zum Beispiel im Newsfeed eines sozialen Mediums besser beurteilen. «Hier schliesst sich der Bogen zu den sozialen Medien – das ist fächerübergreifende Kompetenz, die die Schüler hier entwickeln müssen», meint Sylvia Stöckli.
Wieso nicht nur digital?
Stellt sich die Frage, wieso die Entwicklerinnen und Macher des Lehrmittels nicht auf den klassischen, gedruckten Teil verzichtet und ganz auf erweiterte Realität gesetzt haben. Jonas Christen von der Zürcher Hochschule der Künste und Projektleiter des «immersiven Arbeitshefts», erklärt, das sei ursprünglich sogar der Plan gewesen.
Bei ersten Tests habe sich aber schnell gezeigt, dass die Technik die Schülerinnen zu stark ablenke und auch überfordere. Deshalb nutze man nun die Vorteile beider Medien: ein Arbeitsheft, das die Schüler kennen und die Brille, um Dinge darzustellen, die nicht über Text oder Bild erklärbar sind. Man habe die Vorteile beider Medien kombiniert oder eben, wie es Flurina formuliert, ein Heft geschaffen, das auch «Computer» ist.
Dabei ist das Lehrmittel so konzipiert, dass man auch andere Inhalte als nur Archäologie damit aufbereiten kann. Jonas Christen meint, man könnte so beispielsweise auch den menschlichen Körper visualisieren, sodass ein Kind durch die Brille ein anderes Kind betrachten könne und sähe, wie dessen Stoffwechsel funktioniere.
Es ist also gut möglich, dass in Zukunft noch mehr Schülerinnen und Schüler dem «immersiven Arbeitsheft» begegnen werden.