- Anonym sein – das ist in Gerichtsverfahren wichtig. Es schützt die Persönlichkeit.
- Nur: Anonymisierungen lassen sich im Zeitalter von Big Data aufheben.
- Das zeigt eine neue Studie des rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich, die im juristischen Fachmagazin «Jusletter» erscheint und die SRF bereits vorliegt.
In 84 Prozent der Fälle liess sich die Anonymisierung aufheben – eine so genannte Re-Identifikation.
Algorithmus hebt Anonymisierung in einer Stunde auf
Konkret: Die Autoren konnten herausfinden, um welche Pharmaunternehmen und um welche Arzneimittel es sich bei den Leerstellen in Bundesgerichts-Urteilen zu Klagen von Pharmafirmen handelt.
Studienautorin Kerstin Noëlle Vokinger, Rechtsprofessorin für Digitalisierung und Medizin an der Universität Zürich: «Mit den heutigen technologischen Möglichkeiten ist die Anonymisierung in gewissen Bereichen nicht mehr gewährleistet.»
Riesige Datenmengen
Um die Anonymisierung aufzuheben, bedienten sich die Forscher der sogenannten «Web-Scraping-Technik». Das heisst: Sie luden automatisiert sämtliche online verfügbaren Urteile des Bundesgerichts aus den Jahren 2000 bis 2018 herunter, insgesamt 122'218 Entscheide.
Hinzu kamen zehntausende Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts. Und: Öffentlich verfügbare Daten des Bundesamts für Gesundheit, darunter der gesamte Datenstamm zur Spezialitätenliste.
Mit all diesen Daten erstellten sie eine Datenbank. Diese wurde dann mithilfe eines Algorithmus und auch manuell nach Details durchsucht, die sich verlinken lassen. So konnten die Wissenschaftler 21 von 25 Urteilen, welche sie interessierten, innert nur einer Stunde re-identifizieren.
Spagat: Transparenz versus Persönlichkeitsschutz
Eine Methode mit möglicherweise weitreichenden Folgen. Mitautor Urs Jakob Mühlematter, Mediziner an der Universität Zürich: «Dieses Verfahren kann grundsätzlich bei jeder öffentlich verfügbaren Datenbank angewandt werden.» Und so künftig angeblich anonymisierte Stellen sichtbar machen.
Müssen die Gerichte im Zeitalter von Big Data die Urteile also stärker anonymisieren? Rechtsprofessorin Vokinger: «Es gilt die Interessen zu balancieren. Zum einen muss die notwendige Transparenz gewährt sein – zum anderen müssen, wo indiziert, die Persönlichkeitsrechte des Individuums gewahrt werden.»
Der eidgenössische Datenschutz-Beauftragte Adrian Lobsiger reagiert differenziert: So habe die Öffentlichkeit gerade bei Pharmafirmen einen Anspruch auf Transparenz.
Datenschützer besorgt
Allerdings, so Lobsiger zur Studie: «Ich sehe mich in meinen Ermahnungen bestätigt, dass Sachdaten, die auf persönlichem Verhalten beruhen, potentiell als Personendaten bearbeitet werden müssen».
Transparenz schaffen wo nötig und zugleich die Anonymität wahren: Im Zeitalter von Big Data ein Spagat.