Es war am 31. Januar 2020 kurz nach Mitternacht, als der britische Gesundheitsminister Matt Hancock über den ersten Coronafall in Grossbritannien informiert wurde. Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass allein im Vereinigten Königreich 100'000 Menschen an den Folgen dieses Virus sterben würden.
Mit der Covid-Impfung gibt es mittlerweile wenigstens ein Licht am Ende des Tunnels. Grossbritannien ist europäischer Impfmeister – kein anderes europäisches Land hat bislang mehr Menschen geimpft.
Wer will, kann sich in Grossbritannien auch in einer Moschee impfen lassen. Die grosse Moschee am Belgrave Middleway in Birmingham ist eines der grössten muslimischen Zentren in Grossbritannien. Bis zu 2000 Gläubige treffen sich hier jeweils am Freitag. Seit einigen Tage wird hinter den roten Backsteinmauern jedoch nicht nur gebetet, sondern ebenso geimpft. Hunderte seien bereits gekommen, erzählt Imam Nuru Mohammed. Nicht nur Muslime, sondern auch viele Christen aus der Nachbarschaft.
«Viele von ihnen sagten mir, dass sie das erste Mal in ihrem Leben in einer Moschee seien. Bisher hätten sie das Innere einer Moschee nur im Fernsehen oder im Internet gesehen. Es geschehen also zurzeit gerade zwei Dinge gleichzeitig; man bekommt eine Impfung und besucht dabei das Gotteshaus einer anderen Religion», sagt der Imam.
Die Freude ist dem 44-Jährigen anzuhören. Doch der unerwartete interreligiöse Dialog mit der Nachbarschaft ist lediglich eine Nebenwirkung. Der Grund, weshalb der Imam seine Moschee in ein Impfzentrum verwandelt hat, war ein anderer: Ein deutliches Nein zu den vielen Falschinformationen, die unter Muslimen über die Impfung kursiert seien.
«Es gibt Leute, die sagen, dass es im Impfstoff Stoffe gäbe, die nicht halal – also nicht mit dem Koran vereinbar – seien. Sie behaupten, dass der Impfstoff Erbgut von Schweinen enthalte.» Aus diesem Grund zögert ein Teil der muslimischen Gemeinschaft in Grossbritannien, aber auch in anderen Teilen der Welt, sich impfen lassen.
Die Leute stellten den Ärzten viele Fragen und die Bedenken konnten so wenigstens in unserer Moschee zerstreut werden.
Doch diese Botschaft, welche auch von fundamentalen Predigern verbreitet wird, sei völlig falsch, betont Imam Nuru Mohammed. «Wir haben muslimische Ärzte und Wissenschaftler konsultiert, die Leute stellten ihnen viele Fragen und die Bedenken konnten so wenigstens in unserer Moschee zerstreut werden.»
Der Imam, der Verschwörer bekehrt
Wie überall auf der Welt gebe es auch unter den Muslimen Menschen, die Verschwörungstheorien verbreiten würden, erzählt der Imam. Diese würden behaupten, den Ärzten und ihren Impfungen könne man nicht trauen. Er sage dann jeweils: «Bruder, wenn Du Kopf- oder Bauchschmerzen hast, gehst Du doch auch zum Hausarzt und vertraust seinem Rat. Weshalb sollten wir ihm jetzt bei der Bekämpfung dieses Virus nicht trauen?»
Zu guter Letzt gebe es noch jene, die zu wissen glaubten, dass dieser Impfstoff allein geschaffen wurde, um die Menschen zu kontrollieren. Diese Leute würden sagen, mit der Impfung werde den Menschen ein Mikrochip eingespritzt, damit die Regierung wisse, wohin wir gehen und was wir essen, sagt Nuru Mohammed.
«Leute, sage ich jeweils, in meinem Auto hat es einen Mikrochip, aber in der Impfampulle sehe ich keinen. Die meisten von uns wurden gegen Tetanus und Polio geimpft. In Afrika sogar gegen Ebola. Das würde ja bedeuten, dass bereits unzählige Chips in unserem Körper herumschwimmen.»
Die tragende Rolle der Religion
Kluge Forscherinnen, Mediziner und Politikerinnen sind während einer globalen Seuche unersetzlich, aber die Religionsführer sind nicht zu unterschätzen. Während der Ebola-Krise in Afrika 2014 waren es die Imame und Bischöfe, welche die Menschen in Liberia in Westafrika überzeugten, dass die hochansteckenden Toten – entgegen allen religiösen Vorschriften und Traditionen – kremiert werden müssen, damit die Lebenden keinen Schaden nehmen.
In aussergewöhnlichen Situationen müssten sich die Traditionen der Realität beugen, sagt der Imam von Birmingham: «Wenn eine Person an Corona stirbt und wir wissen, dass das Virus auch von Toten übertragbar ist, dann soll man den Leichnam nicht waschen, selbst wenn es die Tradition vorschreibt.»
Und weiter: «Man bedeckt den Leichnam und legt symbolisch die Hand über diesen und zeigt, dass man das Gebot respektiert, aber die Gesundheit der Lebenden vorgeht.» Das Leben sei heilig, dieses gelte es zu schützen, so stehe es im Koran.
Dass der Islam eher eine autoritative Religion sei, habe in einer Krise übrigens durchaus Vorteile, meint Nuru Mohammed lachend. Es werde weniger diskutiert als bei den Christen. Wenn der Imam sage, «liebe Brüder und Schwestern, es wird geimpft», dann werde geimpft, schliesslich sei er der Chef.
Wir können eine solche Krise nur als Gemeinschaft bewältigen.
Und wie erklärt der Chef seinen Brüdern und Schwestern, dass Allah ein solches Leid wie diesen Virus zulässt? Das sei nicht einfach. Auch seine Gemeinde habe viele Menschen verloren, aber man könne von der Pandemie einiges lernen. «An erster Stelle, dass ein gesundes und langes Leben keine Selbstverständlichkeit ist, und dass wir eine solche Krise nur als Gemeinschaft bewältigen können.».
«Wir brauchen einander. Die Muslime schaffen es nicht allein. Ich brauche meine römisch-katholischen Brüder. Ich brauche meine anglikanischen Brüder. Wir schaffen es nur gemeinsam.» Dies sei die Lektion der Stunde: Wir seien voneinander abhängig.
Der absolute Individualismus sei eine Illusion – die Pandemie ein Weckruf, glaubt Imam Nuru Mohammed. «Jeder muss dort graben, wo er steht. Verbreiten Sie keinen Unsinn über das Virus oder die Impfung. Handeln Sie respektvoll gegenüber ihrem Glauben und der Gesellschaft – so werden wir den Kampf gegen diesen unsichtbaren Killer gewinnen.»