Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Kinder-Videos. Doch für Kinderaugen sind sie definitiv nichts: Seit mehreren Wochen tauchen auf dem YouTube-Kinderkanal immer wieder Filme auf, in denen bekannte Kinderfilmfiguren wie die Eiskönigin Elsa aus «Frozen» oder Peppa Wutz Dinge treiben, die selbst Erwachsene verstören.
Da sind Selbstverstümmelungen, Kannibalismus, Selbstmord und Vergewaltigungen zu sehen. Und die Videos werden gezielt im Kinderkanal platziert: In den Titeln der Filme sind Stichwörter aneinandergereiht, die in der Suche auf dem Kinderkanal am häufigsten eingegeben werden. So rutschen sie durch den Filter des Kanals.
Eltern rund um den Globus sind höchst alarmiert. Sie haben sich in den Sozialen Medien unter dem Hashtag «Elsagate» zusammengeschlossen. Ihnen rät Psychologe Urs Kiener von Pro Juventute zum Gespräch mit den Kindern. Solche Videos seien für Kinder nicht zwingend verstörend.
SRF News: Wie geht ein Kind damit um, wenn es solche Filme zu sehen bekommt?
Urs Kiener: Kinder reagieren bei Neuem und Unbekanntem fast immer ambivalent: auf der einen Seite mit Irritation, Furcht und Schrecken, auf der anderen Seite aber auch mit Neugierde. Diese «Elsagate»-Filme haben einen ähnlichen Effekt wie die Märchen. «Hänsel und Gretel» hatte mir als Kind unglaubliche Alpträume und Schlaflosigkeit bereitet. Trotzdem war ich furchtbar neugierig. Ich wollte die Geschichte immer und immer wieder hören, um mir ausdenken zu können, wie sie anders ausgehen könnte.
Die «Elsagate»-Videos bewirken Ähnliches. Einerseits irritieren und verwirren sie die Zuschauer – nicht nur die Kinder. Die Videos führen auch zu Schrecken und Furcht. Gleichzeitig sind die Kinder auch fasziniert und fangen an, sich Fragen zu stellen und wollen wissen, was da genau abläuft.
Psychologisch sind solche Geschichten eine Möglichkeit, zu lernen, mit dem Schrecken umzugehen.
«Elsagate» ist also kein neues Phänomen?
Ich stelle diese Filme in eine Reihe mit alten Märchen, Legenden, griechischen Mythen, Monstern und Harry Potter. Figuren aus diesen Geschichten versetzen Kinder immer in die Lage, über recht anspruchsvolle Fragen nachzudenken. Psychologisch sind solche Geschichten eine Möglichkeit, zu lernen, mit dem Schrecken umzugehen.
Aber das Internet wirkt verstärkend und liefert solche Inhalte direkt ins Kinderzimmer.
Genau. Das ist die neue Dimension. Um in der Bibliothek an Bücher über der eigenen Altersgrenze zu kommen, musste man ziemlich viel Tricks und Fantasie anwenden. Heute stehen Kindern solche Inhalte im Internet rund um die Uhr zur Verfügung. Das ist die grosse Herausforderung – auch in der Erziehung.
Für Eltern ist es ganz wichtig, in Erfahrung zu bringen, welche Medien die eigenen Kinder konsumieren.
Wie sollen Eltern reagieren, wenn ihr Kind einen solchen Film gesehen hat?
Erstens können Eltern nicht verhindern, dass Kinder diese Filme sehen – das müssen sie vergessen. Ganz wichtig ist dagegen, sich darum zu bemühen, in Erfahrung zu bringen, welche Medien die eigenen Kinder konsumieren. Zweitens sollten sich die Eltern bewusst sein, dass sie eine Vorbildfunktion haben. Durch ihre eigene Mediennutzung müssen sie ihren Kindern zeigen, wie man mit Internet und YouTube umgeht. Drittens sollten Eltern verstehen dass die Kinder, die heute im Vorschulalter sind, zur ersten Generation gehören, für die die Nutzung von Internet und Sozialen Medien die absolut selbstverständliche Lebenswelt ist.
Die Kinder werden so an Themen herangeführt, die das Leben ohnehin an sie herantragen wird.
Geht es vor allem darum, mit den Kindern darüber zu sprechen, was sie gesehen haben?
Genau. Auf diese Weise wird die Angst greifbar. Man kann so lernen, mit dem Schrecken umzugehen. Die Kinder können Fantasie entwickeln und sie werden so an Themen herangeführt, die das Leben ohnehin an sie herantragen wird. In der Psychologie spricht man von Selbsterwartungskompetenz: Mit gewissen Situationen kompetent umzugehen.
Das Gespräch führte Melanie Pfändler.