- Muss ein Service-Public-Sender einen Fernsehwerbespot ausstrahlen, in dem er selber scharf angegriffen wird?
- Diese Frage hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu entscheiden – und entschied genauso wie zuvor das Schweizer Bundesgericht entschieden hatte: Er muss.
- Damit unterlagen die SRG und ihre frühere Vermarktungsorganisation Publisuisse mit ihrer Klage in Strassburg.
Der Fall liegt schon neun Jahre zurück. Doch erst jetzt wurde er endgültig entschieden: 2011 schaltete der «Verein gegen Tierfabriken» einen Fernsehspot, in dem gesagt wurde: «Was das Schweizer Fernsehen totschweigt.» Diesen Spot wollte SRF nicht senden. Er sei geschäfts- und rufschädigend.
Darauf klagte der Verein gegen Tierfabriken und bekam vor Bundesgericht recht. Gegen die bundesgerichtlich verordnete Pflicht zur Ausstrahlung des Fernsehspots wehrte sich wiederum die SRG beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort unterlag sie nun.
Wann können Spots abgelehnt werden?
Die Strassburger Richter begründen ihr Urteil damit, gerade ein öffentlich-rechtlicher Sender müsse die Meinungsäusserungsfreiheit gemäss Artikel zehn der Europäischen Menschenrechtskonvention besonders hochhalten. Das bedeute auch, unliebsamen und provokativen Meinungsäusserungen eine Plattform zu bieten.
Zumindest indirekt wird damit zugleich gesagt, dass ein Privatsender einen solchen Werbespot wohl hätte ablehnen dürfen. Die Freiheit, mittels Fernsehwerbung Botschaften zu platzieren, ist jedoch nicht grenzenlos. Auch das sagen die Richter. Wenn dadurch etwa Persönlichkeitsrechte verletzt würden, seien Spots abzulehnen.
Ausserdem, so argumentiert der Gerichtshof, reiche die blosse Befürchtung, der Inhalt einer Fernsehwerbung sei für die Rundfunkanstalt geschäfts- und rufschädigend, nicht aus, um dessen Ausstrahlung zu untersagen. Die Order des Bundesgerichts, den Werbespot auszustrahlen, greife somit nicht unverhältnismässig ein in die Freiheit der SRG.
Polemischere Werbebotschaften denkbar
Das Urteil ist bemerkenswert. Denn es öffnet die Tür recht weit für finanzkräftige Kreise, ihre Ansichten mittels Fernsehwerbung zu verbreiten. Nicht zuletzt Botschaften, in denen das Medium selber kritisiert wird.
In Zeiten der Coronakrise, da gewisse Kreise Medien allgemein und Service-Public-Medien im Besonderen beschuldigen, Stimmen auszublenden oder gar Lügen zu verbreiten, könnten sich durchaus Bewegungen oder Einzelpersonen für diese Plattform interessieren.
Den Rundfunkanstalten erschlösse das neue Geschäftsmöglichkeiten. Sie müssten jedoch damit leben, in den Werbeblöcken auf den eigenen Kanälen scharf und mitunter polemisch angegriffen zu werden.