Am 22. Juli 2011 ermordet der norwegische Rechtsextremist Anders Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya kaltblütig 69 Menschen. Die meisten von ihnen waren Jugendliche in einem Feriencamp der sozialdemokratischen Partei. Der norwegische Regisseur Erik Poppe hat das Geschehene in Echtzeit verfilmt. SRF-Filmredaktor Michael Sennhauser sagt, was vom Film zu erwarten ist.
SRF News: Es handelt sich bei diesem Film um keinen gewöhnlichen Spielfilm. Welche Geschichte erzählt er?
Michael Sennhauser: Als Zuschauer erlebt man alles aus der Perspektive der Jugendlichen, insbesondere der 19-jährigen Kaya. Der Film beginnt mit ein paar dokumentarischen Aufnahmen und nach drei Minuten sind wir schon mitten im Geschehen, im Zeltlager auf der Insel Utøya. Es fallen die ersten Schüsse, ab diesem Moment dauert das Massaker 72 Minuten. Genauso lange dauert auch der Film – ohne Schnitt und mit einer Handkamera gefilmt. Die Kamera bleibt die ganze Zeit bei Kaya und hälft fest, wie diese bei einem Mädchen bleibt, bis es stirbt; und wie sie sich versteckt oder sich im Wasser schwimmend zu retten versucht.
Der norwegische Regisseur Erik Poppe wollte mit diesem Film den Fokus auf die Opfer legen, weil sonst vor allem vom Täter die Rede sei. Gelingt ihm das?
Absolut, weil wir als Zuschauer ausschliesslich bei den Jugendlichen sind. Die Zuschauer wissen zwar, es handelt sich nur um einen einzigen Mörder. Die Jugendlichen jedoch haben bloss Vermutungen. Sie haben keine Ahnung, was passiert. Es könnten viele Täter sein. Ein Junge meint sogar, es könne sich um Polizisten handeln, weil er eine Uniform gesehen hat. Während dem Film erfahren wir mehr über die Jugendlichen: Ihre Namen, ihre Wünsche und ihr Verhältnis untereinander. Der Täter hingegen wird nur als Silhouette gezeigt weitab auf einem Felsen. Er bekommt weder Gesicht noch Namen.
Der Film wird alte Wunden aufreissen – vor allem politische. Dazu ist er gemacht.
Wie gross ist die Gefahr, dass ein Film, der so realitätsnah diesen Tag nachempfindet, alte Wunden aufreisst?
Der Film wird alte Wunden aufreissen. Aber er ist nicht in erster Linie für die Opfer und deren Angehörige gemacht, sondern für alle anderen. Er ruft etwas in Erinnerung, was man gerne verdrängt – gar vergisst. Er wird vor allem auch politische Wunden aufreissen, dazu ist er auch gemacht.
Ein Kritiker der ARD hat erklärt, der Film sei ein «Schocker mit kitschig überzeichneter Heldinnengestalt» – der Film sei kitschig, reisserisch, geschmacklos. Das sehen Sie also nicht so?
Nein, ich bin mir nicht sicher, ob der Kollege denselben Film gesehen hat. Seine Beschreibung klingt mehr nach den «Hunger Games» mit Jennifer Lawrence – einem Kampf- und Unterhaltungsfilm für Teenager.
Das ist «Utøya» ganz und gar nicht. Man sieht weder Heldentaten noch Überzeichnetes. Die einzige Heldentat, welche die Protagonistin begeht, ist bei einem sterbenden Mädchen zu bleiben. Ansonsten sehen wir ausschliesslich verängstigte Jugendliche. Der Zuschauer bekommt einen Eindruck, wie es sich anfühlt, wenn man keine Ahnung hat, was überhaupt los ist und wie es weitergeht.
Das Gespräch führte Roger Aebli.