Das Insektensterben vor unserer Haustüre, Flammeninfernos in Australien und im Amazonas, Mikroplastik und Überfischung in den Weltmeeren: das grosse Sterben hat eingesetzt. Kaum ein Habitat scheint fähig, sich dem Menschen zu widersetzen.
Der Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen (Ipbes) stellte jüngst fest: Die Zahl der Arten, die für immer verschwunden sind, steigt mit erschreckender Geschwindigkeit.
Die Diagnose: Der Mensch schafft die Natur ab – und am Ende auch sich selbst. «Wir erodieren die Basis unserer Volkswirtschaften, Lebensgrundlagen, Nahrungsmittelsicherheit und Lebensqualität», so der Ipbes-Vorsitzende Robert Watson.
Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf kann beurteilen, wie es aus biologischer Sicht um die Erde steht. Wäre sie ohne uns besser dran? «‹Besser› ist ein Urteil, das wir selber fällen. Sie wäre aber erheblich anders.»
Nicht erst seit der Industrialisierung greife der Mensch in die Flora und Fauna ein. Schon in der Eiszeit habe er begonnen, Grossraubtiere auszurotten. «Wir erleben die Weiterführung eines Prozesses, der seit 20'000 Jahren läuft.»
Doch auch Reichholf sagt: Das Artensterben hat sich dramatisch beschleunigt. Es vollzieht sich aber weniger sichtbar als damals, als unsere Vorfahren dem Mammut den Garaus gemacht haben. «Die Abnahme läuft hauptsächlich im Bereich der kleinen Arten. Deshalb fällt das der Allgemeinheit viel weniger auf.»
Nicht einmal Ratten sind so anpassungsfähig wie wir.
Der moderne Mensch pflügt seine Umwelt so rasant um, dass die Evolution nicht hinterherkommt. «Die Artbildung braucht zigtausende Jahre, bei grösseren Arten Millionen. Die Aussterberate verläuft aber in Jahren und Jahrzehnten.» Der Mensch könne sich dagegen viel leichter auf Veränderungen einstellen, sagt Reichholf: «Nicht einmal Ratten sind so anpassungsfähig wie wir.»
Ein Rezept gegen das Artensterben: der Natur mehr Raum geben. Was auch passiert, erklärt der Forscher. Es gebe riesige Flächen, aus denen sich der «wirtschaftende Mensch» zurückziehe, so etwa in Russland: «Die Konzentration der Menschen in den Städten ist nicht nur Folge der Zunahme der Weltbevölkerung, sondern auch der Landflucht. Dadurch werden weite Naturräume entlastet.»
Nicht in den Metropolen…
Ein Beispiel, wie der Rückzug des Menschen die Natur «entlastet», ist das Sperrgebiet Tschernobyl: «Dass es zu einem der besten Naturschutzgebiete geworden ist, sollte uns zutiefst berühren.»
Doch es gibt Zeichen der Hoffnung: Koexistenz von Mensch und Tier ist möglich – gerade dort, wo wir uns am dichtesten drängen, nämlich in den Grossstädten. «Wo Vielfalt in der Menschenwelt zugelassen wird, stellt sich Vielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt ein – das ist unsere Chance.»
…auf dem Land sieht es düster aus
Dramatisch ist die Lage dort, wo die Landnutzung industriell betrieben wird. «Da überlebt nichts mehr.» Und das sei auch das Ziel: Ausser den Nutzpflanzen, die Erträge liefern, solle dort auch nichts kreuchen und fleuchen.
Abschliessend plädiert Reichholf dafür, den Menschen die Schönheit von Pflanzen und Tieren wieder zu vermitteln. Der gegenwärtige Naturschutz tendiere dazu, Mensch und Natur voneinander zu trennen: «Doch je mehr getrennt wird, umso schwieriger ist es, die Menschen zu begeistern und etwas zu erhalten.»
Heisst: Erst wenn der moderne Mensch begreift, dass auch er Teil der Natur und nicht deren Meister ist, kann die Tier- und Pflanzenwelt wieder gedeihen.