Helen Keller ist Professorin für Völkerrecht, Europarecht und öffentliches Recht an der Universität Zürich. Von 2011 bis Ende 2020 arbeitete sie als Richterin am europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Somit war die Zürcherin die oberste Schweizer Hüterin der Menschenrechte in einem Job mit internationaler Auswirkung, ja gar in einer der höchsten Funktionen, die man als Rechtsgelehrte überhaupt innehaben kann. Und dies, obwohl die heute 56-Jährige gar nie Richterin werden wollte.
«Ich fand es einfach nur schrecklich», sagt Helen Keller über ihr Praktikum am Bezirksgericht Winterthur. Erstmals sah sich die Studentin mit den juristischen Folgen menschlicher Zerwürfnisse konfrontiert: «Morgens fünf Scheidungen, nachmittags sechs Scheidungen. Da dachte ich, nein danke - ich schreibe lieber Bücher.» Tatsächlich blieb die Juristin den Schweizer Gerichten stets fern. Lieber forschte sie und arbeitete als Professorin – bis die Anfrage aus Bern kam.
«Das war ein grosser Tag für mich und für meine Familie. Überwältigend», erinnert sich Helen Keller, die damals, im Jahr 2011, glücklich als Rechtsprofessorin an der Universität Zürich unterrichtete. Der Bundesrat ermutigte Keller, sich für den Posten in Strassburg zu bewerben. Die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey trieb die Frauenförderung in ihrem Departement aktiv voran – mit Erfolg: Nach einem strengen Auswahlverfahren wählte das Parlament Keller zur Richterin. Ein grosser Karriereschritt, der von der zweifachen Mutter privat grosse Einbussen forderte.
Spagat zwischen Strassburg und Zürich
«Mama, sehe ich dich jetzt neun Jahre nicht mehr?», habe Helen Kellers jüngster Sohn sie gefragt, als sie ihm die neue Situation erklärte. Zum Zeitpunkt ihrer Wahl waren Kellers Buben elf und acht Jahre alt. «Ich musste vor allem dem jüngeren erklären, dass das nicht so schlimm ist und dass ich am Wochenende immer nach Hause komme. Aber er hat es am Anfang gar nicht verstanden. Neun Jahre – für so einen kleinen Buben ist das eine Ewigkeit.»
Helen Keller schaffte den Spagat zwischen Zürich und Strassburg ebenso wie jenen zwischen dem internationalen Menschenrechtsschutz und dem nationalen Schweizer Recht. In einer solchen Position habe man eine doppelte Aufgabe: «Man muss den Menschenrechten dienen, aber man muss auch das Wohl der Schweiz im Auge behalten und sich dafür einsetzen.»
Eine anspruchsvolle Zeit
Die Fälle, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen, sind meist juristisch verstrickt und oft von schrecklichem Sachverhalt. Helen Keller musste Situationen meistern, die sie auch im engsten Familienkreis nicht teilen konnte: «Ausser mit den Kolleginnen und Kollegen am Gerichtshof darf man mit niemandem über die Arbeit sprechen. Das führte dazu, dass ich zu Hause sehr still wurde, weil ich ja sowieso nichts erzählen durfte. Das war eine grosse Belastung.»
Auch aus den Medien hielt sich die Zürcherin möglichst zurück. Öffentliche Auftritte seien als Richterin immer ein zweischneidiges Schwert: «Menschen nehmen dies oft zum Anlass, um zu danken oder um Anerkennung zu zollen.» Häufig habe es aber auch unangenehme Reaktionen gegeben, etwa Drohungen gegen Helen Keller selbst oder gegen ihre Familie: «Davor kann man sich praktisch nicht schützen. Es wäre gelogen, wenn ich an dieser Stelle sagen würde, das perle an mir ab. Das tut einem immer weh.»
«Es stünden genug Frauen in den Startlöchern»
Helen Kellers Amtsdauer als Richterin in Strassburg endete nach neun Jahren und zwei Monaten im Dezember 2020. Sowohl als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als auch als Professorin an der Universität Zürich war Keller hauptsächlich von männlichen Kollegen umgeben. Dabei würden genug Frauen in den Startlöchern stehen: «Wichtig scheint mir, dass die jungen Frauen die Gelegenheiten packen, um sich zu bewähren. Die gibt es immer wieder», ist Keller überzeugt. Die Gesellschaft müsse darauf achten, dass sich Frauen nicht zu stark zurückzögen, wenn Familie und Karriere zusammenkommen: «Denn dann ist es schwierig, mit den Männern, die Vollzeit arbeiten, mitzuhalten.»
Mithalten kann Helen Keller auch dank des privaten Ausgleichs, den sie in der Musik findet. Die Richterin spielt Akkordeon, singt gerne oder tanzt: «Man muss Kraft haben in diesem Job. Und da denke ich, es ist wichtig, dass man der Seele gut schaut. Und dass man die schönen Seiten des Lebens geniesst.»