Manuela J. leidet seit zwölf Jahren an Brustkrebs, mittlerweile hat sich der Tumor in Knochen, Leber und Lunge ausgebreitet. Von Heilung kann keine Rede mehr sein. «Es geht vor allem darum, eine gewisse Lebensqualität aufrecht zu erhalten, damit ich weiterhin den Alltag meistern und für meine Familie da sein kann», erzählt die zweifache Mutter.
Im Brustkrebszentrum des Kantonsspitals St. Gallen versucht Professor Beat Thürlimann, ihr dies zu ermöglichen. Seit kurzem behandelt er Manuela J. mit dem völlig neuen Präparat Ibrance. Es soll kommenden März als kassenpflichtiges Medikament auch auf den Schweizer Markt kommen und den Krebs für einige Monate aufhalten können.
Ibrance soll mehrere Tausend Franken pro Monat kosten
Der Preis für das Mittel ist noch nicht festgelegt. In den USA kostet eine Monatsration des entsprechenden Wirkstoffes Palbociclib 10‘000 Dollar, und auch in der Schweiz wird der Preis bei mehreren Tausend Franken pro Monat liegen. Hersteller Pfizer rechtfertigt die hohen Kosten des Medikaments gegenüber SRF, Ibrance erfülle die gesetzlichen Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit.
Krebspatientin Manuela J. ist hin- und hergerissen: «Diese teuren Preise sind der Wahnsinn, aber ich als Patientin muss das beiseite schieben, denn bei mir geht es ums nackte Überleben.» Für Professor Beat Thürlimann geht es noch weiter: «Es könnte soweit kommen, dass ein wirksames Medikament nicht allen Patienten zur Verfügung steht, weil es zu teuer ist.» Für Betroffene kaum vorstellbar, wie auch für Manuela J.: «Ich brauche Zeit und Lebensqualität. Mit diesem Medikament bekomme ich jedesmal wieder einen Tag, eine Woche, einen Monat geschenkt. An Zeit. An Leben.»
Als «irrsinnig» bezeichnet auch Krebsarzt und ehemaliger SP-Nationalrat Franco Cavalli die Preisentwicklung. Im «Kassensturz»-Interview kritisiert er die Behörden und Krankenkassen, die solche Preise schlucken:
SRF: Wie haben sich die Preise der Krebsmedikamente entwickelt?
Franco Cavalli: Das kann man sich leicht merken: Heute kosten Krebsmedikamente 25 Mal mehr als noch vor 25 Jahren.
Ist der Nutzen dieser Medikamente im gleichen Verhältnis gestiegen?
Sicher nicht. Die Resultate sind nicht 25 Mal besser als vor 25 Jahren. Bei gewissen Tumoren sind sie etwas besser, aber lange nicht in dieser Relation. Es gibt viele Studien, die beweisen, dass der Preis für Krebsmedikamente in keinem Verhältnis zum Erfolg steht. Und auch in keinem Verhältnis zu den Herstellungskosten. Es handelt sich lediglich um den Preis, den der Markt schluckt.
Die Behörden haben nicht den Mut, solche Preise abzulehnen.
Warum sind ausgerechnet die Krebsmedikamente so viel teurer geworden?
Erstens ist Krebs zum Problem Nummer 1 geworden. Und zweitens ist es bei Krebs viel einfacher, sehr teure Medikamente «durchzuboxen». Es ist einfacher, Ärzte, Patienten und vor allem Behörden unter Druck zu setzen, sodass sie die Preise akzeptieren. Denn Krebs sorgt für eine grosse existentielle Angst, jeder fürchtet sich davor. Daher haben die Behörden nicht den Mut, solche Preise abzulehnen. Würde man das Gleiche beispielsweise mit Blutdruck-Medikamenten tun, würde das niemand annehmen. Da ist die psychologische Situation ganz anders.
Warum ist diese Preisspirale nach oben so stossend?
Wir sind jetzt bei 15‘000 Franken pro Medikament pro Monat angekommen. Viele Wirtschaftsexperten, viele Nobelpreisträger wie Paul Krugman und Josephf E. Stiglitz sagen, dass das sicher nicht nachhaltig ist. Vor allem die europäischen Systeme mit den sozial finanzierten Krankenkassen werden das nicht aushalten können. Die Folge davon wird mit Sicherheit eine Medizin für Reiche und eine Medizin für Arme sein. Die Reichen werden sich die Medikamente leisten können, die Armen werden sie nicht mehr bekommen.
Wenn die Kosten derart steigen, wird sie unser soziales System nicht bezahlen können.
Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) lässt Wirkstoffe wie zum Beispiel Palbociclib sehr schnell zu. Wahre Wunder werden versprochen. Ist das die Realität?
Sicher konnten wir in den letzten Jahren bei gewissen Tumoren Erfolge verzeichnen und auch beweisen. Aber lange nicht bei allen. Sehr häufig werden Medikamente aufgrund von vorläufigen Auswertungen, welche einen gewissen Unterschied zeigen, zugelassen. Drei bis fünf Jahre nach der Markteinführung verschwindet dieser Unterschied, unterdessen haben die Hersteller aber ihre Schäfchen schon ins Trockene gebracht.
Welche Folgen sind zu erwarten, wenn bei Patienten bereits Behandlungskosten von über einer halben Million Franken pro Jahr anfallen?
Dann sind wir definitiv bei der Zweiklassenmedizin angelangt. Anzeichen dafür gibt es bereits jetzt. Es gibt eine Studie des Tumorregisters in Genf, welche zeigt, dass bei Prostatakrebs 20 Prozent der reicheren Männer eine doppelt so lange Überlebenszeit haben als die 20 Prozent der ärmeren Männer. Dies, weil sie bessere Medikamente bekommen. Wenn die Kosten derart steigen, wird sie unser soziales System nicht bezahlen können. Nur jene, die sich die Medikamente selbst leisten können, werden sie auch bekommen.
Vor Krankheit und Bildung sollten alle Menschen gleich sein.
Was bedeutet das aus ethischer Sicht?
Die Tatsache, dass wir heute – zumindest tendenziell – eine Einklassenmedizin haben, ist einer der grössten Erfolge der westlichen Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg. Vor Krankheit und Bildung sollten alle Menschen gleich sein. In diesen Bereichen Unterschiede aufgrund der finanziellen Möglichkeiten zu machen, das ist ethisch sehr stossend.
Das Interview führte Nadine Woodtli.