Ist von Bakterien die Rede, dann meist im negativen Sinn: Keime, die uns krank machen, Lebensmittel verderben oder sich plötzlich als resistent erweisen gegen lebensrettende Medikamente.
Was dabei zu kurz kommt: Ohne Bakterien wäre menschliches Leben gar nicht erst möglich. Und sie sind nicht nur überall um uns herum, sondern auch an und in uns. Ständig.
Kleinere Gehirne ohne Bakterien
Der menschliche Organismus beherbergt nicht weniger als hundert Billionen Bakterien – gut zehn Mal mehr als er Zellen zählt. Das macht uns zu einem ausserordentlich artenreichen Biotop mit einzigartiger Zusammensetzung. Der individuelle mikrobielle Fingerabdruck wird in den ersten drei Lebensjahren entscheidend geprägt und hat weitreichenden Einfluss auf unsere spätere persönliche Entwicklung.
Eindrücklich zeigt dies ein Laborexperiment mit Mäusen, die in absolut keimfreier Umgebung aufwachsen. Ihre vom Erbgut her identischen Artgenossen, die normalen Kontakt mit Bakterien hatten, sind nicht nur deutlich grösser, sondern haben auch besser entwickelte Gehirne und stärkere Herzen.
Eine Erklärung: Bakterien verarbeiten Stoffe aus unserer Ernährung zu Substanzen, die in unserem Körper als Signalstoffe wirken und wesentliche Entwicklungen beeinflussen. Ohne Bakterien kein Signalstoff – ohne Signalstoff keine normale Entwicklung.
Darmflora hat Einfluss auf Übergewicht
An Bakterien fehlt es uns speziell im Darm nicht. Hier, genauer gesagt im Dickdarm, finden sich geschätzte 90 Prozent aller Bakterien, im und am menschlichen Körper. Gemeinsam bilden sie das Darm-Mikrobiom, die Darmflora, die so wichtig wie gewichtig ist: etwa gleich schwer wie unser Gehirn.
Die Darmflora sorgt für unsere Gesundheit, sie kann aber auch krank machen. Studien zeigen ihren Einfluss auf Übergewicht und Diabetes, vermutet werden Zusammenhänge mit neurologischen Krankheiten wie MS oder Depressionen.
Stuhlproben werden medizinisch wichtiger
Bettina Wölnerhanssen, Forscherin am Claraspital Basel: «Zum einen produzieren Darmbakterien Energie und Vitamine, zum anderen kommunizieren sie mit dem Immunsystem.» Das habe eine kürzlich publizierte Studie zur Wirksamkeit von Medikamenten eindrücklich gezeigt, die erklärt, weshalb ein identisches Medikament bei verschiedenen Personen unterschiedlich anschlägt: «Etwa ein Viertel der Medikamente wirkt nicht über einen Mechanismus im Körper, sondern beeinflusst die Zusammensetzung der Darmflora.»
Das werde sich auf die Forschung und Entwicklung auswirken, ist Wölnerhanssen überzeugt. «Man wird künftig nicht nur schauen, was beispielsweise mit den Nieren- oder den Leberwerten passiert. Man wird eben auch Stuhl-Untersuchungen machen müssen.»
Nicht nur Stuhlproben haben an wissenschaftlichem Gewicht gewonnen, auch die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn ist in den letzten Jahren stärker in den Fokus der Forschung gerückt. Stichwort: Darm-Hirn-Achse.
«Der Begriff ‹Darm-Hirn-Achse› beschreibt lediglich einen Kommunikationsweg», erklärt Bettina Wölnerhanssen. «Die Gehirnstrukturen bekommen Signale vom Darm und schicken ihrerseits Signale zum Darm.» Der Signalaustausch läuft über Nerven, aber auch über das Blut, über verschiedene Hormone.
Es gibt die Hypothese, dass die Darmbakterien unser Verhalten beeinflussen, damit ihnen wohl ist und sie bekommen, was sie brauchen.
Für diesen Austausch gibt es zum einen naheliegende Gründe: «Das Gehirn muss zum Beispiel wissen, wenn es den Appetit bremsen muss, damit nicht zu viel gegessen wird. Der Auslöser dafür kommt vom Darm, der laufend Informationen über Darminhalt, Nahrungsmittelzufuhr etc. liefert.»
Beeinflussen Bakterien unser Verhalten?
Das Verständnis von Art und Umfang der Darm-Hirn-Kommunikation hat sich in den letzten Jahren aber erheblich weiterentwickelt. Der Darm gilt längst nicht mehr bloss als Informant fürs bestimmende Gehirn. «Da gibt es ganz spannende Untersuchungen, die die Hypothese aufstellen, dass die Darmbakterien auch durchaus unser Verhalten beeinflussen, damit ihnen wohl ist und sie bekommen, was sie brauchen», weiss Wölnerhanssen.
Die Frage, wer denn nun der «Chef» im Körper sei, Darm oder Hirn, ist für André Schmidt schnell beantwortet: «Definitiv das Gehirn. Der Darm kann das Gehirn beeinflussen, doch am Schluss steuert das Hirn unsere Persönlichkeit, unsere Gedanken, unsere Emotionen.»
André Schmidt forscht an der UPK Basel und befasst sich mit der Frage, wie die Darmflora und die Manipulation der Darmflora das Hirn beeinflussen.
Darmflora und Depressionen
In der Tierforschung habe man Zusammenhänge zwischen Darmflora und depressivem Verhalten aufzeigen können. «Beim Menschen gibt es aber noch relativ wenig Forschung.»
Ist die Darmflora durch die Depression verändert – oder treibt eine veränderte Darmflora depressive Symptome an?
Zwar existiere eine Handvoll Studien, die im Stuhl von depressiven Patienten eine reduzierte Bakterienvielfalt nachweisen. Daraus abzuleiten, dass eine psychische Störung ihren Ursprung im Darm habe, wäre laut Schmidt aber gewagt: «Ist die Darmflora durch die Depression verändert – oder treibt eine veränderte Darmflora depressive Symptome an?» Die klassische Frage nach Huhn oder Ei.
André Schmidt leitet zwei grosse Studien, die Licht ins Dunkel bringen sollen: Bei der einen wird die Darmflora der Studienteilnehmer mit Probiotika unterstützt. In der anderen soll der Darm mit Stuhl von psychisch gesunden Menschen saniert werden, um eine Wirkung auf die Depression zu erreichen.
30 Kapseln mit Stuhlproben sind dafür insgesamt einzunehmen. Herkunft: USA. «Amerika ist auch in dieser Beziehung ein, zwei Schritte weiter als Europa», so Schmidt. «Dort gibt es bereits mehrere Unternehmen, die das anbieten.»
Wann ist die Darmflora gesund?
Zusammengefasst: Das Biotop Mensch basiert auf einer gesunden Darmflora. Nur dann funktioniert die Symbiose zwischen Mensch und Mikroorganismen zum beidseitigen Vorteil.
Entsprechend verbreitet ist das Bedürfnis, aktiv zum Wohlbefinden der eigenen Darmflora beizutragen. Einfachstes Mittel zum Zweck: Eine möglichst vielseitige, abwechslungsreiche Ernährung.
Wie viele Bakterien braucht es, um eine gesunde Flora zu haben? Das ist noch offen.
Darüber hinaus wird es schwierig, denn es fehlt nur schon an einer allgemein anerkannten Definition der «gesunden» Darmflora. «Weil es noch keine Normalwerte gibt», hält Gastroenterologe Christoph Beglinger vom Claraspital Basel fest. «Wie viele Bakterien braucht es, um eine gesunde Flora zu haben? Das ist noch offen.»