Unser «naher Verwandter» wäre ein etwas gewöhnungsbedürftiger Gast für das nächste Familientreffen: Mit schütterem Haupthaar schwingt er sich von Ast zu Ast, ein kleines Etwas klammert sich um seine Hüften. Dann verschwindet er in den undurchdringlichen Baumkronen; ein schriller Schrei hallt ins Nirgendwo. Dann wird es still.
Spätestens aber, wenn man sieht, wie aufopferungsvoll sich die Mutter um ihr kleines Töchterchen kümmert, wird klar: Mimik, Gestik, ja der ganze Habitus erinnern frappant an unser eigenes Verhalten. So tauften schon die Ureinwohner Borneos die friedlichen Urwaldbewohner auf den Namen «Orang-Utan» – die Menschen des Waldes.
Doch die Wälder Borneos drohen schon bald «menschenleer» zu werden: Nach einer aktuellen Auswertung ging die Zahl der Menschenaffen auf der Insel in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten um annähernd 150'000 zurück. Geschätzt wird, dass es heute nur noch 50'000 bis 100'000 Exemplare der Tiere gibt, die in Südostasien einst weit verbreitet waren.
Alarmierende Studienergebnisse
Für die Langzeitstudie, die in der Fachzeitschrift «Current Biology» vorgestellt wurde, arbeiteten 38 internationale Institutionen zusammen. Die Autoren der Studie befürchten, dass bis ins Jahr 2050 weitere 50'000 der Affen verschwinden.
Die grosse Mehrheit der Menschenaffen starb eines «unnatürlichen Todes»: Entweder durch Wilderer oder dadurch, dass sie ihren natürlichen Lebensraum verloren. Am schlimmsten war der Rückgang in Gebieten, die abgeholzt oder in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt wurden.
Für viele Menschen ist Palmöl die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Wir müssen vorsichtig sein, das von Europa aus alles zu verdammen.
Michael Krützen, Evolutionsbiologe an der Universität Zürich, schliesst sich dem dramatischen Appell der Forscher an. Die Regierung Indonesiens müsse jetzt handeln, damit die Art erhalten werden könne. Allerdings war die Politik nicht untätig – zumindest mit Blick auf die Gesetzgebung: Orang-Utans sind streng geschützt.
Gesetze allein reichten allerdings nicht, sagt Krützen: Sie müssten auch durchgesetzt werden. «Es dürfte zum Beispiel kein Palmöl in Gebieten angebaut werden, die als Naturschutzgebiete vorgesehen sind», sagt der Evolutionsbiologe.
Was tun?
Allerdings: Der boomende Handel mit dem Rohstoff Palmöl, nach dem weltweit gewaltige Nachfrage besteht, sei für viele Menschen in Indonesien die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen: «Wir müssen vorsichtig sein, das von Europa aus alles zu verdammen.»
Es müssten aber Wege gefunden werden, um Palmöl nachhaltig zu gewinnen. «Hier hat es in Indonesien in der Vergangenheit stark gehapert», sagt der Forscher – wobei die internationalen Konzerne massiven Druck auf die Behörden ausübten, um neue Plantagen zu etablieren.
Genetische Auffrischung
Ein Versuch, das Aussterben der Orang-Utans zu verhindern, ist das Auswildern von Tieren, die vorher in Gefangenschaft gelebt haben. Ob die Methode wirksam ist, ist umstritten. Für Krützen ist aber klar: «Wir müssen alles versuchen.»
Die Auswilderung sei eine Sisyphus-Aufgabe und nehme viel Zeit in Anspruch, erklärt Krützen: «Die Tiere leben zwar sehr lange, sie haben aber wenige Nachkommen.» Deswegen sei es enorm wichtig, neue Tiere in die Population hineinzubekommen, «um die Erosion von genetischem Material zu stoppen.»
Viele Populationen sind mittlerweile unter eine Zahl geschrumpft, wo wir uns fragen müssen, ob es sie in 30-40 Jahren überhaupt noch gibt.
Die Tiere müssten aber, einmal in Freiheit, weiter begleitet und nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden: «Überleben sie selbstständig und paaren sie sich in freier Wildbahn?» – diese Fragen müssten durch Beobachtung geklärt werden.
Auswildern allein könne die Orang-Utans aber nicht retten, schliesst Krützen: «Gleichzeitig muss der Lebensraum geschützt werden.» Denn viele Populationen hätten schon jetzt eine Grösse erreicht, bei der fraglich sei, ob sie überhaupt noch erhalten werden könne.