Am 30. November 1803 sticht in der Hafenstadt A Coruña im Nordwesten Spaniens ein Schiff in See – mit ungewöhnlicher Besatzung: An Bord der «María Pita» befinden sich spanische Ärzte, über 20 Waisenkinder und die Krankenschwester Isabel Zendal. Sie sind im Auftrag des spanischen Königs unterwegs, unter der Leitung des Mediziners Francisco Javier de Balmis.
Denn Balmis hat eine verrückte Idee: Er will die wenige Jahre zuvor entdeckte Pocken-Schutzimpfung nach Mittel- und Südamerika bringen. Über den Atlantik. Im frühen 19. Jahrhundert kein leichtes Unterfangen: Die Überfahrt dauert zwei Monate und der Impfstoff kann nicht gekühlt werden, denn der Kühlschrank ist noch nicht erfunden. Was also tun?
Die Spanier bilden eine Impfkette. Dafür benutzen sie 22 Waisenkinder. «Waisen hatten keine Rechte in dieser Zeit. Für die medizinische Forschung konnten sie einfach benutzt werden, weil sich niemand für ihre Rechte eingesetzt hat», sagt Daniela Angetter, Medizinhistorikerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Eine Impfkette über den Atlantik
Für die Impfkette infizieren die Spanier ein Kind mit dem Pockenvirus und warten, bis sich auf seiner Haut kleine Pusteln bilden, sogenannte Pocken. «Aus dem eitrigen Sekret dieser Pusteln hat man dann wieder für den Nächsten den Impfstoff herausgenommen», sagt Angetter.
Für die spanischen Ärzte ist es ein Wettlauf gegen die Zeit: Die Kinder dürfen sich gegenseitig nicht zu schnell anstecken, sonst droht die Impfkette abzureissen, noch bevor das Schiff den amerikanischen Kontinent erreicht. Deshalb müssen die Waisen an Bord des Schiffes strikt voneinander getrennt werden. Diese Aufgabe übernimmt die einzige Frau an Bord: die spanische Krankenschwester Isabel Zendal.
«Isabel war zuständig für die Kinder. Sie pflegte die Kranken und trennte sie von den Gesunden», berichtet die spanische Autorin María Solar. Die studierte Biologin hat 2017 den historischen Roman «Los niños de la viruela – die Pockenkinder» über die Waisen und über Isabel Zendal geschrieben und sagt, die Krankenschwester habe unzählige Menschen vor dem Pocken-Tod bewahrt.
Isabel Zendal: Eine vergessene Medizinpionierin
1950 wurde Isabel Zendal von der Weltgesundheitsorganisation WHO als erste Krankenschwester in der Geschichte auf einer internationalen Mission anerkannt. Dennoch geriet die Spanierin lange in Vergessenheit. «Isabel haben wir vergessen, weil ihr Name verloren ging. Wir kennen sie unter bis zu 33 verschiedenen Namen», sagt Autorin María Solar.
Schuld daran sei Francisco Javier de Balmis, der Chefarzt, der die Impfexpedition leitete, so Solar. In seinen Aufzeichnungen schreibe der Chefarzt anstelle von «Zendal», mal Cendalla oder gar López Gandalia, Gómez Sendalla. «Balmis machte ein Durcheinander», sagt María Solar. Weil sie eine Frau war, habe Isabel als weniger wichtig gegolten, fügt die Autorin an. «Isabel riefen auf dem Schiff einfach alle ‹Isabel›. Die anderen waren Herr Doktor Grajales oder Herr Doktor Salvany.»
Auch die fehlende Anerkennung für den Pflegeberuf dürfte eine Rolle gespielt haben, sagt Medizinhistorikerin Daniela Angetter: «Grundsätzlich hat man in der medizinischen Wissenschaft sehr lange nur die Ärzte in den Vordergrund gestellt. Dass sehr viele Pflegerinnen und Pfleger sowie Krankenschwestern auch hervorragende Leistungen gebracht haben, ist lange Zeit untergegangen.»
Das Geheimnis der Krankenschwester
Klarheit über Isabels Namen schafften vor wenigen Jahren verschiedene spanische Historiker – sie forschten in Galizien auf den Spuren von Isabel Zendal und rekonstruierten ihre Biografie.
Dabei enthüllten die Wissenschaftler ein Geheimnis, sagt María Solar: «Eines der Waisenkinder auf dem Schiff aus A Coruña war gar kein Waisenkind. Es war der Sohn von Isabel Zendal. Sie hatte ein uneheliches Kind und nahm es mit auf die Impfexpedition mit den anderen Kindern, zu den gleichen Bedingungen.»
Auf die gefährliche Übersee-Reise nach Amerika nahm Isabel ihren kleinen Sohn nicht ohne Grund mit. «Balmis versprach Isabel Papiere, damit sie auf der Expedition mitmachte. Er versprach ihr Papiere, die aus ihrem unehelichen Sohn ein Adoptivkind machten», erklärt Autorin María Solar. Damit habe der Chefarzt Isabel Zendal geholfen, ihre Ehre zu retten.
Nach der Impfexpedition blieben Isabel Zendal, ihr Sohn und die Waisenkinder in Mexiko. Dort verliert sich nach 1811 ihre Spur. Historikerinnen und Historiker gehen davon aus, dass sie nie nach Spanien zurückkehrten.
Die Impfexpedition rettete unzählige Leben
Die spanische Impfexpedition ging nach drei Jahren erfolgreich zu Ende: Chefarzt Balmis kehrte 1806 nach Spanien zurück. Er hatte die Welt einmal umrundet, reiste von Südamerika bis zu den Philippinen und Macao und zurück nach Spanien. Die Impfkette mit lebenden Menschen setzte Balmis bis zum Schluss der Expedition fort, mit Waisenkindern und auch mit Sklaven.
«Das war eine Sensation, oder ein denkwürdiges Ereignis der Geschichte, wie Alexander von Humboldt es später nannte», sagt Historikerin Angetter.
Den Einsatz der Waisenkinder für medizinische Zwecke sieht sie dennoch kritisch: «Aus heutiger Sicht haben wir Historiker auch die medizinischen Versuche des Nationalsozialismus in unserem Blickfeld.» Wenn man bedenke, was manche Ärzte mit Tuberkulose-Schutzimpfungen an behinderten Säuglingen und Kindern durchgeführt hätten, müsse man das Einsetzen von Waisenkindern heute in einem ganz anderen Licht sehen.
Die Geschichte zeigt: Wenn sich alle impfen, können wir ein Virus ausrotten.
Autorin María Solar relativiert: «Heute neigen wir dazu, die Geschichte zu revidieren. Doch man kann nicht aus heutiger Sicht über die Geschichte urteilen. Die Impfung war damals der einzige Weg, um sich vor den Pocken zu schützen.»
Solar sieht deshalb vor allem eines in der Geschichte von Isabel Zendal, den Waisenkindern und dem Kampf gegen die Pocken: Hoffnung. «Die Pocken sind die tödlichste Infektionskrankheit der Geschichte. Und wir haben sie besiegt. Die Geschichte zeigt: Wenn sich alle impfen, können wir ein Virus ausrotten.»