Das «Pop» im Popmusik steht für «populär». Popmusiker haben sich also schon immer am Geschmack des Publikums orientiert. Doch lange mussten sie dafür auf ihr Bauchgefühl zählen –die blossen Verkaufszahlen waren die einzigen Daten, die ihnen zur Verfügung standen. Höchstens die Befragung von Fokusgruppen konnte noch mehr Informationen liefern.
Streaming macht Marktforschung in weit grösserem Ausmass möglich. Ein Dienst wie Spotify for Artists gibt Künstlern und Produzenten nicht nur Auskunft über das Alter und Geschlecht der Hörerinnen und Hörer, er zeigt auch wo die Leute einen Song hören, welche Künstler sie sonst noch interessieren und in welchen Playlisten ein Stück aufgenommen wird.
Diese Daten bestimmen immer öfter, wie die Musik klingt, die wir hören. Songs werden so geschrieben, dass sie zu einer bestimmten, populären Playlist passen. Auch in der Schweiz: «Ich sehe, dass immer öfter versucht wird, mit einem Song in eine Playlist zu kommen», sagt Georg Schlunegger. Der 37-jährige gehört zu den Besitzern der Zürcher Hitmill-Studios, wo er als Songschreiber und Produzent arbeitet. «Seit einem halben Jahr gibt es auch jemanden, der für Spotify in der Schweiz Playlisten kuratiert. Dadurch sind die Playlisten noch wichtiger geworden.»
Auch in der Schweiz werden Spotify-Playlists immer wichtiger.
Was in der Schweiz erst im Ansatz zu beobachten ist, gehört in grossen Pop-Märkten wie den USA schon zum guten Ton. Dort werden einzelne Streaming-Playlisten mit unterschiedlichen Versionen desselben Songs bedient – zum Beispiel einer für Latin- oder Dance-Fans – um ein möglichst grosses Publikum zu erreichen.
Die Regeln, die beim Streaming gelten, beeinflussen das Songschreiben sogar noch auf direktere Art. Weil Spotify abgerufene Songs erst ab einer Spieldauer von 30 Sekunden zählt, ist die erste halbe Minute zur alles entscheidenden geworden. Wer nicht will, dass sein Song übersprungen wird, zündet deshalb gleich zu Beginn ein wahres Feuerwerk oder steuert zielgerichtet auf einen ersten Höhepunkt ungefähr bei Sekunde 30 hin.
Während erfahrene Songschreiber oder Label-Manager früher noch fast im Alleingang neue Trends setzten und Hits lancierten, rückt dank den Daten der Streaming-Dienste der Geschmack des Publikums noch mehr ins Zentrum. Georg Schlunegger freut das: «Es ist eine gute Entwicklung – genauso wie die Möglichkeit, unsere Musik in Playlisten zu kuratieren und damit einzelne Song gezielt zu fördern.»
Das neue Modell hat aber auch seine Nachteile: Aus der Forschung ist bekannt, dass der Mensch vor neuen Inhalten leicht zurückschreckt. Bekanntes wird vom Hirn einfacher verarbeitet und deshalb als angenehmer wahrgenommen. Im Bezug auf Popmusik heisst das: Wer nur darauf hört, was das Publikum will, produziert bald die immergleiche Melodie in immer neuen Versionen.
Aber Daten und präzise Marktforschung alleine garantieren noch keinen Hit. Selbst Songs, bei denen alle Zeichen auf Hit stehen, schaffen es oft nicht einmal in die untersten Ränge der Hitparade. Denn auch in der modernen Popwelt sind die Faktoren Marketing und Timing wichtig geblieben. Und da spielt dann auch das Element der Überraschung immer noch eine grosse Rolle.