«Wir verbinden London und Peking», jubelt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Heute, am 90. Gründungstag der türkischen Republik, wird der Bosporus-Tunnel in Istanbul nach neunjähriger Bauzeit eingeweiht.
Das technische Meisterwerk ist auf dem Meeresgrund verankert – entsprechend tief mussten die Investoren in die Taschen greifen. Mehr als umgerechnet drei Milliarden Franken kostete das Projekt. Bezahlt von der Japan Bank for International Cooperation und der europäischen Investitionsbank.
Neue «Seidenstrasse»?
Die Eisenbahnverbindung unter dem Marmara-Meer ist ein 150 Jahre alter türkischer Traum. Schon die osmanischen Sultane schmiedeten kühne Pläne für eine Röhre zwischen Europa und Asien. Doch auch die Passagiere des berühmten Orient-Express mussten mit der Fähre vom europäischen zum asiatischen Teil Istanbuls noch übersetzen, wenn sie nach Bagdad reisen wollten.
Ab heute kann man die einst beschwerliche Reise gemütlich von A bis Z im Zug antreten. Der rund 13,6 Kilometer lange unterirdische Supertunnel zwischen Europa und Asien ist nach einigen Verzögerungen fertig gebaut – inklusive einer 1,4 Kilometer langen und erdbebensicheren Doppelröhre aus Beton unter dem Bosporus. Er ist weltweit der tiefste Tunnel, der mit versenkbaren Elementen geschaffen wurde. An der tiefsten Stelle liegt er 56 Meter unter der Wasseroberfläche.
Türkische Politiker hoffen, dass das neue Wunderwerk eine neue Ära der «Seidenstrasse» einläutet. Ab 2015 soll der Tunnel auch für den Fernverkehr von Zügen genutzt werden und dann die erste normalspurige Verbindung zwischen Europa und Asien sein. Erdogan rechnet mit kräftigen Impulsen im Güterverkehr zwischen Europa und China. Auch der interkontinentale Tourismus soll durch das Projekt angekurbelt werden.
Entlastung für 15-Millionen-Metropole Istanbul
Die Röhre unter dem Marmara-Meer soll auch die chronisch verstopften Istanbuler Strassen entlasten. Die beiden bestehenden Autobahnbrücken über den Bosporus werden täglich von vier Millionen Pendlern frequentiert.
Der neue Tunnel wird die beiden Teile von Istanbul im Zwei-Minuten-S-Bahn-Takt verbinden und stündlich bis zu 75'000 Menschen befördern.
Mit der Verbindung dauert die Fahrt zwischen Europa und Asien noch vier Minuten. Zum Vergleich: Zu Stosszeiten braucht ein Autofahrer für die 1,5 Kilometer lange Bosporus-Brücke rund zwei Stunden.
Sicherheits- und Umweltfragen
Trotz allen Vorteilen: Unumstritten ist das «Marmaray»-Projekt nicht. Wissenschaftler kritisieren, dass die Arbeiten am Tunnel unter dem Meeresboden der Unterwasserwelt des Marmara-Meeres schweren Schaden zugefügt haben.
Ausserdem hegen gewisse Erdbebenexperten Bedenken wegen der Sicherheit der unterirdischen Anlagen. Keine zwanzig Kilometer vom Tunnel entfernt verläuft eine tektonische Verwerfungszone. Istanbul ist stark erdbebengefährdet und lebt in ständiger Gefahr.
Die Tunnelbauer betonten in der Vergangenheit immer wieder, dass selbst ein Beben der Stärke 9 den neuen Tunnel unversehrt liesse. Sie hätten alle möglichen Szenarien durchgerechnet: Die Menschen im neuen Supertunnel seien in Sicherheit.